Symposion 07

Briefe aus dem Gefängnis

Augenblicklich beschäftige ich mich mit Picassos „Desmoiselles“. Einige Ratten bringen die Damen etwas durcheinander. Ich plane ein größeres Figurenbild von diesem Thema (mit 5 Damen). Ich merke, alles, was ich zeichne, sind mehr oder weniger Entwürfe für Aktionen. Ich fühle mich sehr gut bei dieser aktionistischen Zeichenmethode. Ich drifte im thematischen Aufwind. Das Thema macht der Form Flügel (um es etwas poetisch auszudrücken).

Unlängst ist mir von Rembrandt der „Dr. Tulp“ untergekommen. Werde versuchen, ihn aktionistisch umzusetzen. Da die „Ratte“ augenblicklich zu meinen Lieblingssymboltierchen avanciert ist, wird sie auch dabei sein. Dieses Tier hat die unbezahlbare Eigenschaft, den Bildinhalt rabiat aufzumöbeln. Vor kurzem hat mir einer Eisenoxydrot-Pigment geschenkt. Da ich das Fett vom Rindfleisch nicht esse, habe ich mir mit Rinderfett und Pigment Ölkreiden fabriziert.

Wie Sie sehen, befinde ich mich noch immer auf dem Postkartentrip. Dieses kleine Format ist das ideale Fahrzeug für meine kleine Zelle. Schnell und wendig und mit geringstem Material- und Energieaufwand. Allmählich entwickle ich mich zum Arcimboldo des 20. Jahrhunderts, mit den „sexmorphologischen Portraits“. Ich denke, Kunst soll nicht nur schön, intellektuell und formerfinderisch, sondern unserer Zeit gemäß auch grausam sein, sozusagen ein Schlag ins Gesicht des konsumistischen Weltbildes.

Das Wesentlichste am Aktionismus ist, daß er die Abstraktion, die gegenstandslose Darstellung überwunden hat und wieder ein Thema da war. Das wirkt bei mir bis heute nach. Alle meine Zeichnungen sind im Grunde gezeichnete Aktionen. Das Verdienst Duchamps ist es, daß er wieder, vor allem in „Etant donnes“, thematisch wurde.

In einem neuen Bild macht sich der Tod über ein junges Weib her – das Lied von Schubert „Das Mädchen und der Tod“ (vorüüüüber vorüüüber geh wilder Knochenmann .). Der Tod zeigt sich in meiner Darstellung nicht als tödliche Krankheit, sondern als drakularischer, aus dem Grabe auferstandener geiler Wicht, als perverser Grufti, der pralle Dirnen anknabbert und dem das Körperparadies verweigert wird. Ich hoffe, diese alte bildnerische Thematik, die vor allem im 19. Jahrhundert zur Lächerlichkeit und Pathetik verkam, durch die dionysische Interpretation wieder erträglich zu machen. Mich haben schon immer Bilder ungemein erheitert, auf denen sich ein Maler in wehleidiger Selbstliebe, in heroischer Pose mit Palette und Pinsel zeigt, während ihm bereits rücklings über die Schulter „Der Tod im Nacken“ „Brüader kumm“ (uaah!) zuflüstert.

Ein köstliches Bild sah ich vor Jahren: Ein Arzt gebietet einem Gerippe, das sich gerade über ein schwindsüchtiges Mädchen hermachen will, mit strenger Miene und energischer Handbewegung Einhalt. Ich finde, solche Themen wären es wert, dionysisch recycelt und revitalisiert zu werden. Cézanne verwandelte das Thema in ein Totenschädel-Stilleben. Van Gogh malte ein Skelett, das eine Zigarette raucht. Bei Dürer wird ein Ritter durch Tod und Teufel bedrängt. Die Dialektik Dionysos/Tod ergab sich beim Entwurf einer Weinvignette.

Im Falter las ich eine Besprechung der Rockenschaub-Ausstellung in der Wiener Secession. Rocky erntet mit tierischem Eifer die verwelkten Rosen aus Marcels Garten. Marcel (Duchamp), der geniale Satan, kastrierte eine beträchtliche Schar hoffnungsvoller österreichischer Jungkünstler. Diese Vögel wollen nun partout keine Österreicher mehr sein, sondern New Yorker. Sie sollten sich schämen. Der große Hubert von Goisern dagegen hatte den Mut, ein ehrliches alpines Bekenntnis abzulegen. Erfolg hat eben ein Künstler nur dann auf Dauer, wenn er seine Wurzeln, seine Heimat nicht verleugnet. Aber die Jungvögel haben vergessen, daß sie durchs heiße Burenhäutl, durch Stelzen, Heurigenlieder, Jodler, Schuhplattler, durch den Musikantenstadl und nicht durch Fast food, Coca-Cola und Hamburgers usw. geprägt und verblödet wurden. Der Österreicher ist nicht cool, er ist brandheiß. Readymade, Konzept-, Installations-, Minimal Art, Jeans, Pop-Computer-Musik, Digitalkunst usw. sind Gift für den Österreicher. Wie sagte es Franz Grillparzer: „Der Österreicher denkt sich seinen Teil und läßt die andern tanzen.“ Vergeblich bemüht sich unsereins um lockere, geniale Oberflächlichkeit. Bei uns gibt's Gartenzwerge, Edelweiß, Enzian, Wacholder, Jagertee und Latschen, bei uns siacht ma kan Warhol hatsch'n, auch kan Elvis Presley, auch kan Rock und Blues, wir hom dafür den Schürzenjägerschmus. Trotzdem, „der Österreicher hat ein Vaterland und hat auch Ursach', es zu lieben“ (Franz Grillparzer). Wer in Österreich nach Readymades sucht, findet nur Eierschwammerln. Der Österreicher weiß nicht, daß er selbst ein Readymade ist.

Wenn ich von der Collage-architektur (die irreführend postmodern genannt wird) auf die Gestaltung der Kommune zurückschließe, so sehe ich, daß es ein Fehler war, zu versuchen, ein harmonisches Ganzes gestalten zu wollen. Ich versuchte, die Kommune wie ein Cézanne-Bild zu gestalten, die „Landschaft“ mit dem gleichen Mittel zu „frisieren“ oder, anders gesagt, über einen Kamm zu scheren. Aus dieser Einsicht ergibt sich für mich die Erkenntnis, daß eine Gemeinschaft dieser Art gar nicht realisierbar ist. Jeder einzelne muß selbst seinen Platz in der Welt ohne kollektive Gebundenheit, ohne kollektives Weltbild (Religion) suchen. Das Kollektiv ist etwas für Kranke und das Kollektiv produziert Kranke. So gesehen betrachte ich die 20 Jahre Kommune als eine Gestaltungsphase (als eine Art von Aktionismus in der Wirklichkeit), die überwunden und abgeschlossen ist.

Ich führe hier zwar ein beschauliches, zurückgezogenes Leben, trotzdem habe ich auch Streß. Einerseits male ich große Bilder, dann mache ich wieder die kleinen Collagen, die auf die Bilder zurückwirken. Mit dem Briefeschreiben bin ich immer im Rückstand, kurz, viel zu tun. Allerdings habe ich keine Termine, die mich drängen. Augenblicklich beschäftige ich mich mit Walt Disney: König der Löwen. Ich liebe die Hyänen. Ich male gerade an einem großen Bild (2 m x 1,50 m). Zwei Hyänen jagen zwei weibliche Figuren. Ich nenne das Bild „Afrika“. Disneys Tierzeichnungen sind sehr picassoid, was die Reduzierung u. Vereinfachung betrifft. Das Warzenschwein ist geradezu kubistisch.

Nitsch hat nun endlich den Durchbruch geschafft, und das in der Staatsoper. Das ist wohl einmalig und großartig. Ich bin begeistert. Einem anderen würde das schaden, aber Nitsch weicht sicher nicht ab von der Orgienmysterientheateridee.


Otto Mühl, geb. 1925 in Grodnau/Burgenland, sitzt derzeit in der Justizanstalt Stein a.d. Donau ein. Anfangs Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, dann Absolvent der Akademie der bildenden Künste in Wien, Maler und Happening-Künstler, Mitbegründer des „Wiener Aktionismus“ ab 1960 und Betreiber der „Mühl-Kommune“ (Aktionsanalytische Organisation, AAO) zunächst in Wien und dann am Friedrichshof, Burgenland (1970–1991). 1991 wegen Beischlafs mit Unmündigen, Unzucht und Vergewaltigung im Rahmen der Kommune zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilt, hat Mühl, für den sich damals namhafte internationale Kunstvermittler einsetzten, bereits mehr als die Hälfte der als „sehr hart“ gewerteten Strafe bei exemplarischer Führung abgebüßt. Zuletzt war er mit früheren und aktuellen Werken in mehreren internationalen Großausstellungen vertreten, wie der Happeningkunst – „Hors Limites“ „L'art et la vie“ im Centre Georges Pompidou und „Cloaca Maxima“ in Zürich. Die zitierten Briefe Mühls sind vom 30.05. und 26.11.1993, 27.05.1994, 09. und 11.01. und 04.03.1995.

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