Symposion 06

Das Ende des Sezessionierens

Nichts Neues in der Kunst? Was bleibt mir zu sagen? Ich habe so viele Ansprüche an die Kunst. Das „neue“ oder das „fortschrittliche“ Kunstwerk erwarte ich nicht. Wer so denkt wie ich, der untersucht auch nicht Kunstwerke nach diesen Kriterien und glaubt an eine andere Mission der Kunst.

Das „Neue“ in der Kunst fortwährend aufs neue zu erwarten, das ist die These, die am Anfang der Geschichte der avantgardistischen Bewegung steht: Der Künstler also als Funktionär des gesellschaftlichen Fortschritts, die Kunst als Vorausabteilung der Menschheit in eine bessere Zukunft. Bis in die sechziger Jahre hinein wurden die künstlerischen Neuheiten von niemandem bestritten. Es blühte impressionistisch und expressionistisch, futuristisch und kubistisch, dadaistisch und surrealistisch, es blühte die Popart und die Konzept Art – und dann?

Mußte man tatsächlich ein Prophet sein, um zu erkennen, daß früher oder später einmal der Augenblick kommen mußte, der dem Prozeß des Sezessionierens ein Ende setzen würde, einfach weil der Vorrat an abbaufähigem Widerstand gegen Konventionen verbraucht, die revolutionäre Phantasie erschöpft, das Klima der Epoche nicht mehr geeignet sein würde, weitere Neubildungen im Sinne der avantgardistischen Ideal eher vorzubringen? Spätestens mit dem Wort „Avantgardismus“ drang einst der Kampfgeist ein in die ständig fällige Auseinandersetzung zwischen Alt und Neu.

Die Erwartung des immer wieder geforderten Neuen in der Kunst ist aber die Pathosformel einer abgeschlossenen Epoche die den Begriff des Avantgardismus salonfähig machte und Aufruhr, um früheren Aufruhr zu übertrumpfen. Längst schon kann man den Eindruck gewinnen, daß das Diskutieren um die angeblichen Krisen der Kunst zu einer Art Konvention geworden ist während die Künstler dieses Problem längst verabschiedet haben und längst Abstand zum Prinzip des „Erfindens“ bewahren möchten.

Ein Jahrhundert lang hat man die Freiheit des Künstlers identifiziert mit seiner ständigen Bereitschaft, das jeweils etablierte Kulturgut über den Haufen zu werfen, sich avantgardistisch freizukämpfen und den Vormarsch in Richtung auf ein stetes Neues fortzusetzen. Freiheit, so wie ich sie heute seitens der Künstler erlebe, bedeutet aber, die Energie aufzubringen, mit der man sich aus geschichtlichen Aporien wieder freikämpfen kann, die Künstler möchten weder zum Neuen, noch zum Alten, sondern zum Notwendigen hin.

Es sollte doch möglich sein, daß beispielsweise der die Rezeption so belastende Begriff „Avantgardismus“ aus der Erwartungshaltung der Kunst gegenüber wieder verschwindet, daß der durch die Zeiten wandernde „Topos“ des kritischen Vergleiches zwischen Alt und Neu aufhört und daß sogar der Begriff des „Modernen“ in allen seinen Abwandlungen eines Tages sterben wird.

Bei alledem sind Traditionen selbstverständlich wichtig, solange sie dazu benutzt werden, sie zu überwinden. Ich glaube, daß es überhaupt keine Krise der Kunst geben kann, wohl aber eine Krise der Rezeption, deren populäre Begrifflichkeiten auf den Ideen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beruhen und die wahrscheinlich heute wenig geeignet sind, Entwicklungen der jüngsten Kunst zu entschlüsseln. Ist man in den anderen Künsten (Musik, Theater, Literatur) längst übereingekommen, elementare Prinzipien in Frage zu stellen, versucht man in der bildenden Kunst vielerorts seitens der Kritik aus einem eher falsch verstandenen Traditionsbewußtsein heraus , die ewigen Werte aufs neue zu beschwören. Man fragt beispielsweise, wie verbindlich eine Kunst von Individualisten für die Gemeinschaft der Betrachter sein kann, und vergißt darüber, daß die Künstler sich längst von dieser einstigen Utopie verabschiedet haben.

Wir müßten ernsthaft annehmen, daß die Kunst kein geeignetes Mittel ist, dem Ganzen einer Gesellschaft Sinn zu geben, wohl aber kann sie ein Modus der Hoffnung für eine Gesellschaft sein und einem neuen Bewußtsein von Wirklichkeit zum Ausdruck verhelfen. In dem so oft kritisierten, facettenreichen, ja labyrinthartigen Spektrum der heutigen Kunst mag man die Annäherung der Kunst an eine schon proklamierte neue Dimension der Geistesgeschichte erkennen, die durchaus realitätsbewußt das Ende des linearen Denkens in Ursachen und Wirkungen voraussagt. Hält man sich weiter allein an das durch die „Moderne“ manifestierte Kunstverständnis, wird es allerdings zum Problem, wie man verstehen soll, was inzwischen vor sich gegangen ist.

Die beschworene angebliche Krise der Kunst gründet meiner Meinung nach in der Unmöglichkeit, den tradierten Kunstbegriff nachhaltig und glaubhaft auf die jüngsten Entwicklungen der Kunst anzuwenden. Mit Duchamp, Warhol und Beuys konnte man sich schließlich noch arrangieren, aber mit einem über deren erweiterten Kunstbegriff noch hinaus gehenden Selbstverständnis von Kunst hat man größere Mühen als je zuvor. Die moderne Kritik, die seit Jahrzehnten damit beschäftigt ist, Bewegungen, Ismen, „neue Entwicklungen“ zu montieren und zu demontieren erlebt heute den schmerzlichen Verlust lieb gewonnener Rezepturen.

War es beispielsweise in den vorangegangenen Jahrzehnten noch möglich, die verschiedenen Entwicklungen der Kunst durch markante Begriffe im Rahmen tradierter Wertmaßstäbe zu ordnen,so entzieht sich die Kunst jetzt zunehmend einer gewohnheitsmäßigen Systematisierung, nach der im Grunde auch nicht mehr verlangt wird.

Die Künstler sind jedenfalls dabei, sich eines Korsetts zu entledigen, in dem Sinne, daß der wahre Avantgardist vergeblich versucht, in eine Schublade zu passen. Vieles hat sich neuerdings auf den Hauptverkehrsstraßen der Kunst ereignet, nur lassen sich diese Phänomene kaum noch mit einem traditionellen Kunstverständnis disziplinieren. Wenn Künstler heute traditionell nicht als „künstlerisch“ angesehene Ideen erproben, wenn sie zunehmend in alltägliche Bereiche des Lebens eingreifen, wenn sie sogar die Rolle des Künstlers, des Kritikers und des Ausstellungsmachers in einer Person vereinen, dann gerät ein über Jahrzehnte gewachsenes Kunstverständnis aus dem Lot.

Eine zeitgemäße Kunst, die sich nicht länger nahtlos an die Ideale der Moderne anfügt, fordert auch eine veränderte Erwartungshaltung: Insofern ist es von nebensächlicher Bedeutung, sie dem Kriterium „Alt“ und „Neu“ zu unterwerfen.

Bei rechtem Licht betrachtet verhält es sich doch wie schon immer: Es ereignet sich nichts Neues. Es geht um die immer gleichen alten Geschichten, die von immer neuen Menschen erlebt werden. „Es ist von jeher die Aufgabe der Kunst gewesen“, schreibt Walter Benjamin, „eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.“ Die sich ergebenden Extravaganzen und Kruditäten der Kunst, zumal in den sogenannten Verfallszeiten, gehen in Wirklichkeit aus ihrem reichsten historischen Kräftezentrum hervor.


Udo Kittelmann, freier Ausstellungsmacher und Kunstkritiker, ist seit Mitte 1994 Leiter des Kölnischen Kunstvereins, wo er durch eine Reihe ungewöhnlicher Ausstellungen (u.a. „Der Stand der Dinge“ und eine Schau in Buchform des Österreichers Erwin Wurm) breite Beachtung fand und heftige Diskussionen auslöste.

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