Symposion 02

Kritikenschreiben als Spaß. Gespräch mit Peter Schjeldahl

Robert Fleck: Sie sind der meistgelesene Kunstkritiker in den USA. Ihre wöchentliche Seite in der New Yorker Village Voice lesen selbst junge Künstler. Wie sehen Sie heute die Rolle der Kunstmetropole New York?

Peter Schjeldahl: New York war bis zum Ende der sechziger Jahre die Hauptstadt des Kunstverständnisses der USA und damit automatisch die Kunsthauptstadt der Welt – da die USA eine weltbeherrschende Macht darstellten. Die abstrakte Malerei der amerikanischen Nachkriegszeit, die Pop-art und später die Minimal Art hatten ursächlich mit diesem imperialen Selbstverständnis zu tun. Man blickte damals ja gar nicht nach Europa, da man einer Bestätigung dieser Selbsteinschätzung gar nicht erst bedurfte. Schon während des Zweiten Weltkriegs bezeichnete das Time Magazine unsere Epoche als das „amerikanische Jahrhundert“. Dieses „Jahrhundert“ hat dann gerade fünfundzwanzig Jahre gedauert eigentlich ein beachtlicher Zeitraum. Ende der sechziger Jahre zerfiel mit dem Verlust der imperialen Stellung des Landes auch die Kunstszene New Yorks in mehrere Teile. In dem Vierteljahrhundert seither ist die Stadt nicht mehr der Ort, an dem die beste Kunst entsteht. Die interessanteste neue Kunst entstand seit Mitte der siebziger Jahre wohl eher in Deutschland.

RF: An welche Künstler denken Sie da?

PS: Ich denke an die konzeptuellen Maler, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist: Gerhard Richter, Sigmar Polke, auch Anselm Kiefer, dessen tiefen Einfluß in den USA man in Europa glaube ich weitgehend übersieht.

RF: New York ist aber zugleich immer noch eine Art Drehscheibe der heutigen Kunst, Die wichtigsten Auktionen zeitgenössischer Kunst finden hier statt. Die meisten führenden Galerien der Weit sind in New York. Von der Güte der Museumssammlungen an Kunst des 20. Jahrhunderts ganz zu schweigen.

PS: Gewiß. New York ist weiterhin die Weltmetropole der Kunst, wenn auch nicht so allesbeherrschend wie früher. Was mir jedoch wichtiger erscheint: In dem Zustand der Verwirrung, der seit dem Zusammenbruch des Spekulationsmarktes für zeitgenössische Kunst zu Beginn der neunziger Jahre allenthalben herrscht, scheinen sich auch die amerikanische und die europäische Kunst mehr und mehr voneinander zu isolieren. In den siebziger und Achtziger Jahren schien es uns, als würde die Kultur dies- und jenseits des Atlantiks zunehmend auf einen gemeinsamen Nenner, auf eine universelle Idee des Menschen zusteuern. Wenn ich heute nach Europa fahre, habe ich den Eindruck, als sei Amerika für die dortigen Künstler wieder Lichtjahre entfernt. Mit dem Zusammenbruch der gängigen Weltbilder, der das Ende des Kalten Kriegs teils begleitete, teils bewirkte, scheinen den meisten Künstlern auch die bisherigen Regeln des Kunstmachens obsolet. In dieser Situation greifen die besten Künstler, so ist zumindest mein Eindruck, auf sehr lokale Sachverhalte zurück. Wie immer zeigt die beste Kunst die Wahrheit ihrer Epoche, Das bedeutet natürlich nicht, daß es sich notwendigerweise um eine erbauliche Wahrheit handelt. 

RF: Sie haben sich regelmäßig für europäische Künstler eingesetzt, noch bevor deutsche Kunst in New York Mode war.

PS: Ich lebte 1964 für ein Jahr in Paris. Ich kam aus einer Kleinstadt in North Dakota und ging als surrealistischer Dichter nach Europa. Erst vor Ort kam ich drauf, daß der Surrealismus längst passe war. Eines Tages schlenderte ich in die Galerie Sonnabend und sah die erste Ausstellung von Andy Warhols „Blumenbildern“. Das raubte mir den Atem – als habe Warhol die Problematik der Kunst entzweigeschnitten wie einen Gordischen Knoten. Ich sagte mir: „Du bist in der falschen Stadt.“ So kam ich nach New York, wo ich nach wie vor lebe.

RF: In Ihren Kritiken für die Village Voice, wie früher für die New York Times, beziehen Sie meist sehr klare ,persönliche Standpunkte. Ihre Urteile sind auch sehr gefürchtet.

PS: Ich habe aber keine vorgefertigte Ansicht davon, was heute oder zu einem bestimmten Zeitpunkt gute Kunst zu sein habe. Das einzige, worauf ich achte, ist, daß mir das Kunstbetrachten und das Kritikenschreiben selbst Spaß macht. Das ist für mich die wichtigste Aufgabe des Kritikers. Wenn es ihm nicht Spaß macht, wem dann? 

RF: Man sagt heute oft, daß die bildende Kunst durch die allesbeherrschende Mediengesellschaft, durch die virtuellen Bilder und die elektronischen Medien gefährdet oder zumindest zutiefst herausgefordert sei.

PS: Diese Debatte ist seit Walter Benjamins berühmtem Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ von 1933 nicht zur Ruhe gekommen. Benjamins These ist brillant, aber leider völlig falsch. Wir sind weit entfernt vom „Verlust der Aura“ des Kunstwerks durch die modernen Möglichkeiten der Reproduktion. Die Reproduktion hat im Gegenteil die Ausstrahlung und Bedeutung des Originals erhöht. Ich bin der Ansicht, daß wir gegen Ende des 20. Jahrhunderts bei einer visuellen Verfeinerung und Zivilisierung angelangt sind, wie sie keine Epoche zuvor kannte. Zumindest für Ästheten wie mich, die ihr Auge für die Unterscheidung von Original und Reproduktion empfänglich halten wollen. 


Peter Schjeldahl, geb. 1942 in North Dakota, lebt seit 1964 in New York. Als Kunstkritiker Autodidakt. Mitherausgeber der führenden amerikanischen Kunstzeitschrift Art in America. Bücher u. a. „The Hydrogen Jukebox: Selected writings 1978 – 1990“. 1995 erscheint eine deutsche Auswahl im Berliner Verlag neue bildende kunst.

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