Symposion 01

Die Motorisierung der Kunst. Gespräch mit Paul Virilio

Robert Fleck: In Ihrem neuesten Buch „Die Eroberung des Körpers“ beschreiben Sie die Ausbildung einer umfassenden „Mediensphäre“, die alle Lebensbereiche eindringt, bis die Genetik. Das bedeutet auch eine radikale Umwandlung dessen, was „Kultur“ bedeutet. 

Paul Virilio: Gehen wir vom Titel der französischen Originalfassung aus: „Die Kunst des Motors“. Das bezieht sich auf eine nachdrückliche Ausweitung des Kunstbegriffs. Kunst war immer ein Teil des Weltbildes, durch verschiedene Technologien wie die Skulptur, die Malerei, später die Fotografie. Mit der Erfindung des Films begann das Zeitalter der „motorisierten Kunst“, in dem wir uns befinden. Anfangs rief der Assistent, wenn die Klappe für eine Filmszene fiel, „Motor!“; erst heute ruft er „Aktion!“. Was die Kunst des 20. Jahrhunderts so faszinierend macht, ist die Motorisierung der Wahrnehmung, bei der sie an vorderster Linie steht. Die abstrakte Kunst ist nur so zu verstehen. Da stellt sich die Frage: „Welche Rolle spielt der Motor?“

RF: Gemeinhin heißt es, der Motor, die mechanische Maschine, sei heute – im Computerzeitalter – vom Computer und der Elektronik überholt oder gar abgelöst worden. Wir kommunizieren weltweit, ohne uns noch körperlich an einen anderen Ort begeben zu müssen.

PV: Die Geschichte der Moderne ist von verschiedensten Motoren geschrieben worden. Der erste Motor war die Dampfmaschine. Sie brachte nicht nur die industrielle Revolution, sondern auch eine Revolution des Transportwesens. Schon die Eisenbahn bedeutet vor hundertfünfzig Jahren eine Motorisierung der Wahrnehmung: Denken Sie nur daran, was man durch das Abteilfenster erlebt. Ich nenne das die „dromoskopische“ Weltsicht – sie ist bestimmt vom „dromos“, der Geschwindigkeit. Die Dampfmaschine brachte die Serienfertigung hervor, die die Kunst des 20. Jahrhunderts, von den Ready-mades von Marcel Duchamp bis zur Pop-art und ihren Folgen, so sehr bestimmen sollte. Sie vollzog aber auch eine Serialisierung des Sehens, die den Film in eine Darstellungsform umsetzt. Der zweite Motor war der Explosionsmotor, der das Fliegen ermöglicht und damit die Sicht von oben und die abstrakte Kunst – Künstler wie Malewitsch oder die italienische Futuristen waren sich dessen sehr bewußt. Als dritter Motor der Moderne kam der elektrische Motor, der die Voraussetzung für den perfekten Gleichlauf des Films und für das frühe Fernsehen ist. Danach folgt der Reaktionsmotor, mit dem es dem Menschen gelang, die Erdatmosphäre zu verlassen und die Welt von außen zu betrachten. Die amerikanischen Astronauten sahen danach der Mondlandung die Erde über dem Mondhorizont aufgehen. Seither haben wir eine Art „meteorologisches Weltbild“. Das letzte Glied in dieser Entwicklung ist der Computer: Es handelt sich um einen elektronischen Motor. Und er bringt die virtuelle Realität. Das heißt, es geht nicht mehr nur um die Verführung durch Bilder, sondern um alle fünf Sinne – „Cyberspace“. Vor unseren Augen entsteht eine „Cyberkultur“, die eine Art riesige elektronische Skulptur darstellt.

RF: Bleibt da noch Raum für die Kunst?

PV: Ich gehe davon aus, daß die Geschwindigkeit eine Wahrnehmungsform bildet und damit im Wesen eine Kunst darstellt. Eine „rohe“ Kunst, Rohmaterial, wie man „art brut“ sagt oder „naive Kunst“, also eine Kunst, die bislang noch nicht gestaltet wird. Alle diese Maschinen, die schnellen Fahrzeuge, die Raketen, die Elektronik und das Cyberspace, bilden eine rohe Form der Kunst: Wie ein Orchester komponieren sie ein Weltbild, das ein künstliches Gebilde ist und Rohstoff für die Kunst der Zukunft darstellt.

RF: Sind Sie nicht auch kritisch gegenüber den elektronischen Medien, vor allem dem Fernsehen, das heute per Satellit von jedem Punkt der Erde live zugegen ist?

PV: Diese „Ubiquität“ hat tatsächlich eine „Verschmutzung der Distanzen“ zur Folge. Es gibt die „Umweltverschmutzung“, aber auch eine geistige Umweltverschmutzung, die aus der Neutralisierung der Entfernungen entsteht. Was nottut, ist eine Ökologie des Denkens. Die Medien reduzieren die Welt auf eine Augenblicklichkeit und Unmittelbarkeit, in der alles immer schon „da“ scheint. Alles ist in Lichtgeschwindigkeit präsent – und auch diese Grenze wird noch überwunden werden. Die Umwelt ist nicht mehr etwas, auf das man zugeht. Ohne Distanz aber gibt es kein Denken, keine Kreativität. Das Medienzeitalter kann sehr wohl auch die Epoche einer dumpfen Unmittelbarkeit der Menschen gegenüber ihrer Umwelt sein, das Zeitalter einer allgemeinen Blödheit.

RF: Sie sprechen von einer neuen Distanz gegenüber dieser von den Medien verrotteten Wirklichkeit, die die Kunst wiedererfinden müsse.

PV: Mein Buch ist auch ein Manifest zugunsten der Schrift. Die Kunst kann heute zweierlei sein: eine apokalyptische Übersteigerung der Mediensphäre und der Unmittelbarkeit, in die sie die Wahrnehmung zwingen will; oder sie schafft Abstand, einen Zwischenraum, in dem Denken weiterhin möglich bleibt. „Schreiben statt Bildschirm“ also – aber nicht „Schreiben statt Bild“, da das künstlerische Bild ja eben diese Distanz auch ermöglicht. Da ist auch das Medium „Papier“ heute wieder so modern. Was uns fehlt, ist eine Kritik der Technik im Sinn einer „Kunstkritik“. Sie ist nur ein David gegenüber der riesigen Macht der Medienkonzerne. Ihre Rolle aber ist umso ausschlaggebender.


Paul Virilio, geboren 1932 in Paris, studierte bei Marice Merleau-Ponty. Bekannt geworden u.a. mit einer Studie über die deutschen Bunker des Atlantikwalls und über das Phänomen der Beschleunigung in der Moderne. Lehrt an der Pariser Hochschule für Architektur. In diesem Herbst erschien „Die Eroberung des Körpers“, Edition Akzente, Hanser Verlag.

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