KünstlerInnenporträts 13

Auszug aus einem Gespräch mit Vito Acconci

Sie haben mit anderen Künstlern Ihrer Generation Ende der sechziger Jahre die sogenannte „Körperkunst“ begründet. Ein direktes Umgehen des Künstlers mit seinem eigenen Körper wurde zum Träger des Kunstwerks.

Ich begann nicht in der Bildenden Kunst, sondern mit dem Schreiben. Bis 1963/69 verstand ich mich als Schriftsteller und stand in der Tradition der Dichtung. Dabei begann ich mich zu fragen: Warum bewege ich mich auf dem Blatt von links nach rechts? Bilden die Seiten in einem Text notwendigerweise eine Abfolge? Ich betrachtete die Seite zunehmend als einen Raum, in dem ich mich als Schreibender bewegte.

Und dann überschritten Sie die Druckseite sozusagen in den realen Raum?

Ich versuchte zunächst eine Sprache zu finden, die nicht mehr über diesen Raum, das betreffende Blatt hinauswies. „Baum“ oder „Stuhl“ konnte ich da natürlich nicht mehr verwenden, sehr wohl aber „Hier“, „dann“, „zu diesem Zeitpunkt“, „an diesem Ort“. Bald aber reduzierten sich meine Texte auf Beistriche, Bindestriche und Fortsetzungspunkte. Ich war in eine Sackgasse geraten. Da entschloß ich mich, vom Blatt des Schriftstellers in den dreidimensionalen Raum zu gehen, in den realen Raum. So kam ich zur bildenden Kunst.

Hatten Sie damals Vorbilder in der bildenden Kunst?

Solange ich Schriftsteller war, wußte ich, auf welche Tradition ich mich bezog. In der bildenden Kunst dagegen war ich allein. Autodidakt. Ich hatte auch nicht mehr das Blatt zur Verfügung, das noch eine gewisse Orientierung ergeben hatte. Dafür ergab sich aber ein neuer Ausgangspunkt: Wenn ich nichts anderes zur Verfügung habe als den realen Raum, so stellt sich die Frage, was einen veranlaßt, sich in diesem realen Raum zu bewegen. So kam ich zur Problematik des „öffentlichen“ und „privaten“ Raums, um den sich meine Aktionen und Installationen seither drehen.

Wir kamen Sie zur Form der „Aktion“, für die es wenig Vorbilder gab?

Ich beschloß zum Beispiel, einer Person zu folgen, ihr nachzugehen. Solange es mir gelang, ihr zu folgen, waren Zeit und Raum außerhalb meiner Kontrolle. Das war der Ausgangspunkt für meine bildnerische Arbeit. Natürlich war ich darüber hinaus von bestimmten Dingen beeinflußt, doch nicht so sehr von Kunst als vielmehr von wissenschaftlicher Literatur. So zum Beispiel von der Psychosoziologie, von Erwin Goffmanns Analysen des Alltagslebens etwa, und von der Systemtheorie. So entstand die Überlegung: „Es gibt ein System ‚Gehende Menschen auf der Straße’. Da begebe ich mich in das System und sehe was paßiert.“

Das war zunächst Kunst außerhalb des Museumsraums.

1970 wurde ich vom Museum of Modern Art in New York zu einer berühmt gewordenen Ausstellung mit dem Titel „Information“ eingeladen. Innerhalb der Institution „Museum“ tätig zu werden, schien mir damals sehr problematisch. Ich beschloß, sie zu einem Teil meines privaten Raums zu machen. Für die Dauer der Ausstellung ließ ich meine Post ins Museum umleiten. Wenn ich Lust hatte, Briefe zu öffnen, ging ich ins Museum.

Die kleinen, reduzierten Akte, die diese „Aktionen“ ausmachen, lassen Querverweise zur minimalistischen Kunst, die in den sechziger Jahren aufkommt, zur Minimal Art vermuten. Ich denke zum Beispiel an Robert Morris?

Die Minimal Art war sicher ein wichtiger Einfluß. Das haben wir Mitte der sechziger Jahre auch vornehmlich gesehen. Das bedeutete einen grundsätzlichen Wandel: Bis dahin konnte man eine Skulptur als solche betrachten, als isolierten Gegenstand. Vor einer Minimal Art Skulptur aber kommt man nicht umhin, den Raum mitzubedenken und die Leute, die sich in ihm bewegen. Der „Fehler“ – man sucht ja immer Fehler, wenn man von einer Sache tief beeindruckt ist – der Minimal Art war nur, daß die Skulpturen wie von unsichtbarer Hand hingestellt scheinen. Da beschloß ich: Was immer du machst, laß klar werden, woher das kommt und wer das gemacht hat. Das blieb bis heute für mich eine Maxime. Manchem geht das vielleicht auf die Nerven. Aber ich kann mir zumindest sagen, daß ich nie verheimlicht habe, wer für das Werk verantwortlich ist. Ich habe mich nie hinter meinem Kunstwerk versteckt.

Wie lebt es sich als Autodidakt in der bildenden Kunst?

Das gab mit auch einen Vorteil. Die berufsspezifische Rolle, die ein Künstler immer auch spielt, war mir fremd und ließ sich ignorieren. Und ich erachte es auch als Startvorteil, daß ich keine speziellen handwerklichen Kenntnisse hatte. Ich weiß zum Beispiel bis heute meistens nicht, wie man ein Werk, das ich entworfen habe, technisch ausführen kann. Bei der Wiener Ausstellung 1993 im Museum für angewandte Kunst war es nicht anders. Das versetzt mich in die Rolle eines Filmregisseurs: Ich arbeite mit dem Branchentelefonbuch und kann mir den Luxus leisten, „komische“, freie Ideen zu haben und dann Leute einzubeziehen, die diese Ideen technisch auf den Punkt bringen.

Heute interessieren Sie sich vornehmlich für den Gegensatz von öffentlichem und privatem Raum. Ihre Arbeiten tragen den Generaltitel „Public space for a Private Time“.

Man muß sich überlegen, was „öffentlicher Raum“ heute eigentlich bedeutet. In New York zum Beispiel ist die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum nur noch schwer zu erkennen, wenn sie so viele Leute in der U-Bahn schlafen sehen. Allgemeiner noch sind Fernsehen und Telefon am Ende des 20. Jahrhunderts wohl der wirkliche öffentliche Raum. In einer Welt, in der Politik etwa sich vornehmlich über Computer und Telekommunikation ereignet, muß man auch das Private neu bestimmen.

Was bedeutet das für Sie als Bildhauer oder Künstler, der mit dreidimensionalen Situationen umgeht?

Im späten 20. Jahrhundert und in einem elektronischen Zeitalter, das die physischen Entfernungen zunehmend entwertet, ist Raum etwas Bewegliches, Instabiles. Deshalb haben meine neueren Arbeiten oft mit „Zwischendingen“ zu tun, mit Spielzeug, Geräten, Dingen, die sie mit sich tragen können. Mehrere Arbeiten haben mit Sexpuppen zu tun, die auch als Radios funktionieren, etwas Herumtragbares par excellence. Geräte, Instrumente und Spielzeug als Grundform dessen, was man mit sich trägt, und Alternative zum fixen Raum, dem Platz. Ein Platz ist etwas, zu dem sie sich hinbewegen, Geräte und Instrumente tragen sie mit sich herum. Deshalb interessiert mich diese Form – als Ausdruck der heutigen Zeit.

Die „antikünstlerische“ Haltung Ihrer früheren Arbeiten spielt dabei kaum noch eine Rolle.

Damals stand das Leben in Amerika im Zeichen der Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Als ich aufwuchs, in den vierziger Jahren, war es ausgemacht, daß „Amerika“ etwas Bestimmtes verkörpere, nämlich „die Macht“. Um 1968 begann diese Macht zu zerbrechen, und damit auch die Begriffe „Nation“, „Vater“, „Mann“, kurz alle Kategorien der Macht. Das hat damals sehr viele Künstler beeinflußt. Es gab diese Idee: „Wir werden das, was Kunst ist, vollständig verändern. Wir werden die Fortsetzung der Kunst im herkömmlichen Sinn, im Sinne des Kunsthandels, ein für allemal unterbinden.“ Und viele von uns machten Kunstwerke, die bewußt unverkäuflich waren, da wir dachten, die Galerien und das ganze Kunstsystem bis zum Museum hängten von der Verkäuflichkeit der Kunstwerke ab. Und indem wir diese umgingen, würden unsere Werke das Funktionieren der Kunst in der Gesellschaft radikal verändern. Heute wissen wir, daß wir damit das gerade Gegenteil erreichten. Ich denke, wir haben das Kunstsystem nur noch mächtiger gemacht. Gewiß waren viele Werke damals unverkäuflich. Doch wir erregten auch viel Aufsehen. Und damit erfüllten wir eine kommerzielle Funktion, ob wir uns darüber klar waren oder nicht. Wir schufen, gerade mit unverkäuflichen Werken, Publizität für die Galerie, wir fungierten als Auslage. Wir waren damals unglaublich naiv gegenüber der tatsächlichen Komplexität der Geschäftswelt.

Wie sehen Sie heute die öffentliche Rolle des Künstlers?

In der Mitte der siebziger Jahre begann ich mich zu fragen: „Gleicht meine Stellung, als ein Künstler, der nichtkommerzielle Installationen in Galerien zeigt, nicht der eines Innenausstatters, der für die Dauer einer Ausstellung die Tatsache zu verdecken hat, daß die Galerie ein kommerzieller Laden ist? Heute kann man die gleiche Frage für die „public spaces“ in den USA formulieren: Die meisten dieser nichtmusealen Ausstellungsräume werden von Unternehmen in der Absicht betrieben, damit steuerliche und baupolizeiliche Vergünstigungen zu erlangen. Und zugleich bedeutet „public space“ paradoxerweise, daß der Rest der Stadt nicht ihr Terrain als Künstler ist. Sie sind autorisiert, im Inneren des Museumsraums zu agieren. Es ist ein wenig eine Kindergarten-Situation.

Ist das tatsächlich so kategorisch?

Ich hatte immer eine gewisse Schwäche für den Gedanken, der Künstler sei ein Art Freischärler. Der Freischärler sieht letztlich alles in Bezug auf die Aktion, die er unternehmen will: Er braucht zum Beispiel einen Zug, in dem er eine Bombe deponiert, die Bombe ohne den Zug macht keinen Sinn. So ist es auch mit dem Künstler. Eine andere Art, zu arbeiten, könnte ich mir nur schwer vorstellen.

(Textfassung: Robert Fleck; publiziert in: Der Standard, 15./16.10.1994, S. 7)

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