KünstlerInnenporträts 83

Gespräch mit Heinz Gappmayr

Wolfgang Fetz: Herr Gappmayr, 1962, damals waren Sie 37 Jahre alt, erschien Ihre erste Publikation. Sie trug den Titel „Zeichen“. 1964 hatten Sie in München Ihre erste Einzelausstellung, „Zeichen II“. Vom Buch zur Ausstellung – wie muss man sich das vorstellen?

Heinz Gappmayr: Tja . in München, das war eine Privatgalerie. Den Galeristen habe ich damals kennengelernt, und der hat dann im Rahmen seiner Möglichkeiten solche Ausstellungen gemacht, unter anderem von Fruhtrunk, Calderara – und eben auch von mir.

WF: Ich habe die Frage eigentlich etwas anders gemeint. Sie bezog sich auf den Kunstkontext zu Beginn der sechziger Jahre. War das damals so einfach oder gegeben, dass ein „Autor“ in einer Galerie seine Werke ausstellt, an die Wand hängt?

HG: Das war vielleicht wirklich damals etwas Neues und Ungewohntes. Aber es ist vielleicht der Weg von der Literatur zur bildenden Kunst. Man konnte natürlich nicht vorausahnen, dass diese sprachlichen Elemente später eben gerade im Zusammenhang mit der Konzeptkunst so eine große Rolle spielen würden. Aber der Anlass war vielleicht der . die Erfahrung nämlich, dass man die „Seite“ ohne weiteres auf eine Wand vergrößern konnte. Ich hatte den Eindruck, dass diese Arbeiten, diese Texte nicht durchaus nur adäquat wären in Form eines Buches. Später machte ich dann die Erfahrung, dass überhaupt fast alle Texte zu vergrößern waren in irgendeinem Ausstellungsraum. Die theoretischen Voraussetzungen dazu waren dann etwas schwieriger, weil es kaum interdisziplinäres Wissen gibt, zum Beispiel zwischen Literaten und bildenden Künstlern oder auch Musikern. Meistens ist da wenig Information von der anderen Seite, und bis zu einem gewissen Grad gilt das heute noch.

WF: Es war jedoch gerade zu Beginn der sechziger Jahre, dass eine Hochblüte des Spätmodernismus stattfand – der spätmodernistischen Theorie damit auch, die auf das absolute Bild abzielte, das heißt auf reine Visualität. Und eigentlich wurde dann, zumindest im nachhinein, der Einbruch von Sprache in den Bereich der Kunst im engeren Sinne auch als der Beginn der Postmoderne bezeichnet . als Ablöse Spätmoderne – Postmoderne. Und das war natürlich vor Zeiten der Konzeptkunst, zu Beginn der sechziger Jahre – also zeitgleich mit dem Minimalismus, der gleichzeitig einen Höhepunkt und eine Überschreitung des Spätmodernismus darstellt.

HG: Ja, man ist geneigt, hintennach – nämlich als Produzent bestimmter Werke – da eine Kontinuität zu konstituieren, die aber damals gar nicht so ohne weiteres greifbar war. Sondern es war so, was die Literatur betrifft, dass in den fünfziger Jahren der Surrealismus sehr stark war, hauptsächlich der französische, etwa Eluard und René Char. Was mich daran gestört hat, war, neben oft phänomenalen Arbeiten, die Beliebigkeit von Metaphern. Und der nächste Schritt war überhaupt eine gewisse Skepsis gegenüber metaphorischer Sprachweise. In der bildenden Kunst war durch den Minimalismus auch eine Grenze erreicht, die man mit bildnerischen Mitteln nicht mehr überschreiten konnte. Man konnte nur noch regressiv auf etwas anderes zurückgreifen und vielleicht da etwas Neues entwickeln, aber es gab eigentlich nicht die Vorstellung, dass man aus minimalistischen Konzepten heraus noch so etwas wie eine weitere Entwicklung erfinden könnte oder Modifikationen. Die blieben dann alle in diesem Bereich, und es war unerhört schwierig, da Innovationen zu machen. Der Schritt von rein bildnerischen Mitteln zur Sprache ist eine sehr komplexe Geschichte, weil auf den ersten Blick zwischen bildender Kunst und Sprache kein Zusammenhang besteht. Wenn man aber von den theoretischen Voraussetzungen ausgeht, dann kann man Zusammenhänge feststellen. Gerade in diesem Zusammenhang ist zum Beispiel Robert Morris sehr interessant – mit seinen Überlegungen, was die Perzeption von Realität betrifft . das ist anhand eines Würfels sehr schön gezeigt. Da tauchen plötzlich kategoriale Aspekte auf, zu denen es ein Äquivalent in der Sprache gibt. Auch in der Sprache hat man es mit kategorialen Dingen zu tun, das heißt mit Raum, Zeit, Beziehungen usw., mit Quantitäten . diese alten Einteilungen und Kategorien, die über Kant bis auf Platon zurückgehen. Da gibt es Zusammenhänge. Aber in der Realisierung der Werke war das nicht ohne weiteres klar. Manche dachten, man will in der Sprache einfach nur etwas darstellen, was man eigentlich in der bildenden Kunst auch kann, und das Entscheidende war, dass man von dieser bloßen Transposition bestimmter Bilder aus der bildenden Kunst in die Sprache, dass man davon abkommt, weil das wäre wirklich eine gewisse Banalisierung gewesen. Das kann die bildende Kunst viel besser. Aber es gibt Dinge, die sich sozusagen nur sprachlich realisieren lassen, zum Beispiel die numerische Indifferenz wie bei meinem Text „ca. 100“. Es wäre unmöglich, dies irgendwie in der bildenden Kunst darzustellen. Aber eine Gemeinsamkeit gibt es, denn die Reduktion auf elementare Formen, wie zum Beispiel im Minimalismus, oder diese Grenzbereiche von Erkenntnisvorgängen ergeben Äquivalente, das könnte man deutlich darstellen.

WF: Ich werde noch darauf zurückkommen, aber vielleicht vorher noch kurz zurück an den Beginn der sechziger Jahre. Wenn man sich die österreichische Kunstlandschaft damals ansieht, waren Sie einer der wenigen, der in dieser Richtung gearbeitet hat – sieht man einmal von der Wiener Gruppe ab, oder von einigen Vertretern der Wiener Gruppe. Gomringer war damals auch für die Wiener Gruppe eine wichtige Figur. Woher hatten Sie Ihre Informationen?

HG: Ich habe Gomringer 1959 kennengelernt, und natürlich habe ich seine Arbeiten gekannt, und bin aber dann mit der Zeit draufgekommen, dass unsere Ausgangspunkte ganz verschiedene sind. Er hat zum Beispiel seine Arbeiten immer in Zusammenhang gebracht mit der Werbung oder auch mit der sogenannten „Konkreten Kunst“. Damals war ja der Begriff des „Konkreten“ sehr en vogue, aber nicht nur das, auch der Begriff der „Poesie“, das hat mich immer schon gestört. Meiner Ansicht nach ist dies ein atavistischer Begriff . das „Poetische“, „Poesiealbum“ usw. Aber im Sprachgebrauch damals konnte man sich anders nicht verständigen als mit solchen Vokabeln. Wobei man sagen muss, dass das von Gomringer schon eine großartige Sache war. Die „Konstellationen“ waren bestimmt ein Schlüsselbuch der damaligen Zeit, die erste Ausgabe ist ja schon 1953 erschienen. Ein Sprachgebrauch dieser Art war ungewohnt und die Reduktion oft auf bloße Wörter bzw. die Eliminierung der Syntax weitgehend, das war schon wirklich von großem Einfluss auf alle anderen und auf mich natürlich auch. Nur, ich bin dann draufgekommen, dass ich eigentlich in eine andere Richtung tendiere. Das heißt, mir ist es mehr um die Realisierung bestimmter theoretischer Voraussetzungen eines solchen Sprachgebrauchs gegangen, und er war mehr der Pragmatiker.

WF: Wenn man Ihr Ausstellungsverzeichnis ansieht, fällt einem sofort auf, dass Sie eigentlich – und zwar seit Beginn der sechziger Jahre – wesentlich mehr international in das Kunstgeschehen eingebunden waren als in Österreich.

HG: Ja, in Österreich hat es eigentlich sehr wenig Möglichkeiten gegeben. . Man kann sagen mit Ausnahme der „Wiener Gruppe“ und in manchen Dingen auch Jandl zum Beispiel – der hat in so eine Richtung gearbeitet. Aber von der „Wiener Gruppe“ selbst waren es genau genommen nur Rühm und Achleitner, die in diese Richtung gearbeitet haben. Und alle anderen in Österreich – was an Produktionen damals überhaupt sichtbar war – waren doch mehr dem Literarischen verbunden in einem konventionellen Sinn.

WF: Und das Aufkommen der Konzeptkunst, hat das für Sie einen Schub gebracht, oder eine Bestätigung?

HG: Ja, es war vor allen Dingen eine Bestätigung, es war eine gewisse Verblüffung. Ich habe Anfang der siebziger Jahre Weiner kennengelernt und war eigentlich erstaunt, dass die sehr wenig wussten von diesen ganzen Entwicklungen in der europäischen Kunst, was die Nähe zum Literarischen betrifft. . Es hat zum Beispiel auch der frühe Carl Andre Texte gemacht, aber es wäre bestimmt zu vereinfachend, sie in einen Zusammenhang zu bringen mit diesen frühen Entwicklungen. Es gibt Affinitäten, ohne Zweifel, aber es ist trotzdem anders. Aber in etwas habe ich mich bestätigt gefühlt, besonders auch durch Kosuth usw., dass es denen auch um kategoriale Dinge gegangen ist, und das war wirklich verblüffend, weil ich mit Berechtigung sagen kann, dass ich eigentlich der einzige war, der die Arbeiten in diese Richtung hin entwickeln wollte.

WF: Man könnte angesichts Ihrer Arbeiten vielleicht auch, in einem gewissen Sinne, von sprachanalytischen oder sprachlichen Untersuchungen sprechen. Hier hätte man natürlich auch eine sehr bedeutende österreichische Tradition – ich erinnere nur an Fritz Mauthner oder Ludwig Wittgenstein. Hatte das irgendeinen Einfluss auf Ihr Denken?

HG: Soweit ich mich erinnern kann, ist die Werkausgabe von Wittgenstein 1956 erschienen. Damals wusste man im Allgemeinen nur wenig über Wittgenstein. Aber später dann fand ich auch bei Wittgenstein wirkliche Bestätigungen, übrigens auch bei den Amerikanern, zum Beispiel bei Quine oder bei Goodman. Das waren Bestätigungen dafür, dass offensichtlich ein allgemeiner Trend besteht, jetzt die Dinge beziehungsweise die philosophischen und künstlerischen Probleme, vom Sprachlichen her zu untersuchen. Insofern war natürlich die Lektüre von Wittgenstein und den Amerikanern sehr anregend.

WF: In der Konzeptkunst – könnte man sagen – gibt es eine Entwicklung auch hin zur Institutionskritik, vor allem bei „Art & Language“, das heißt, einen Schritt von der Kritik, wenn man so will, an der Wahrnehmung – der phänomenologischen Kritik im Minimalismus – zu einer Sprachkritik in der Konzeptkunst, dann auch zu einer Institutionskritik in der Konzeptkunst. Wie sehen Sie Ihre Arbeit in diesem Zusammenhang?

HG: Man kann das Phänomen, oder sagen wir das Verhältnis von Sprache und Gegenstand auf verschiedene Weise interpretieren. Zum Beispiel die Unschärfe der Begriffe ist ja eine Tatsache, die kann man verschieden interpretieren. Man kann so wie Jochen Gerz zum Beispiel sagen, dass die Sprache völlig unfähig ist, irgend eine Realität zu vermitteln. Man kann aber auch genau umgekehrt sagen, dass, ontologisch betrachtet, die Sprache mehr Gewicht hat als die Dinge. Da scheiden sich natürlich die Geister, beweisen kann man natürlich in einem strikten Sinne da überhaupt nichts. Das hat eher etwas mit einer persönlichen Erfahrung zu tun. Natürlich, dadurch, dass die Begriffe selber mit den Gegenständen nicht genau übereinstimmen, das heißt, eine gewisse Beliebigkeit hier festzustellen ist, dadurch sind auch die Schwierigkeiten in der Vermittlung von Fakten, Realitäten, Sachverhalten durch die Sprache gegeben. Aber man muss sie meiner Ansicht nach nicht unbedingt negativ beurteilen. Wenn man natürlich einen Zusammenhang herstellen will zwischen der Gesellschaft zum Beispiel und diesen Problemen, dann neigt man vielleicht eher dazu, dieses Phänomen unter der Rubrik „babylonische Sprachverwirrungen“ einzuordnen. Auf der anderen Seite war ja gerade diese Absetzung der Sprache vom Gegenständlichen ein Indiz für den Purismus, wenn man so will, der in diesen Dingen schlummert. Es gibt ja da auch einige Vorläufer. Früher zum Beispiel habe ich mich schon sehr mit Mallarmé beschäftigt, wo natürlich nach dieser ganzen extremen Symbolik auch plötzlich so Probleme auftauchen, zum Beispiel der Einfluss der Syntax auf den Inhalt oder das Verhältnis der Wörter zur Realität und so in dieser Richtung.

WF: Wenn man das jetzt von der erwähnten Institutionskritik weiterdenkt und in der historischen Entwicklung betrachtet, dann kam gegenüber der Institutionskritik der Vorwurf, vor allem von feministischer Seite, dass sozusagen das Geschlechtliche beziehungsweise der Körper ausgeklammert wird aus dieser Kritik. Wenn ich es recht sehe, hat Sie das Schriftliche im eigentlichen Sinne, also der Akt des Schreibens, die Geste, der Ausdruck nie interessiert. Das Somatische fehlt in ihrem Werk völlig.

HG: Sie meinen, das fehlt völlig?

WF: Ja.

HG: Ja, das ist richtig. Aber es ist nicht beabsichtigt, sondern ich glaube der Umgang mit der Sprache in einer bestimmten Hinsicht lässt gar keine anderen Möglichkeiten offen, als rein am Begriff zu bleiben. Also das andere wäre ja sozusagen wieder etwas, das die übrige Realität betrifft. Aber solange man sich mit Dingen beschäftigt, wie zum Beispiel: „der Unterschied zwischen einem Einzelwort und einem Satz“ oder „Wann entsteht Sinn?“. Wenn man die ganze Problematik der Schrift einbezieht: „Wie ist es möglich, dass zum Beispiel reine Lineaturen Sinn vermitteln?“ Diese Problematik ist etwas verdeckt durch unsere Schulausbildung und durch diese massiven Konventionen. Uns erscheint es selbstverständlich, dass Schüler in der Schule einfach die Sprache und die Schrift lernen. Aber wenn man versuchen wollte, aus der scheinbaren Trivialität des Erlernens einer Schrift und einer Sprache eine Erklärung abzuleiten, dann wäre das natürlich eine sehr unphilosophische Art Dinge zu betrachten. Das ist ungefähr so wie seinerzeit Brunelleschi, Masaccio oder Uccello und andere die Zentralperspektive entdeckt haben. Für die war das eine überwältigende Geschichte. Heute zeichnet jeder Schüler im Geometrieunterricht zentralperspektivische Räume. Aber er empfindet nichts dabei, dass die visuelle Welt nur durch die Entfernung sozusagen zerstört wird, um es negativ zu betrachten, oder verschwindet, wenn man es transzendental betrachten wollte. Man kann öfters beobachten, dass die Leute etwas als trivial empfinden, weil sie durch Konventionen einen Umgang mit diesen Dingen, zum Beispiel mit der Sprache gewohnt sind. Aber es ist wirklich völlig unverständlich, wie gerade oder gekurvte Linien hochkomplizierte Sinnzusammenhänge vermitteln können. Auch wenn das vordergründig durch das Erlernen von Sprache oder von der Schrift erklärt werden könnte. Für mich war das ein faszinierendes Thema, das Verhältnis von Schrift zur Sinnhaftigkeit. Und scheinbar ist das sehr weit weg von irgendwelchen Elementen der bildenden Kunst, aber das ist nur scheinbar so. In Wirklichkeit gibt es in der bildenden Kunst die Problematik zum Beispiel zwischen Gegenstand und Abbildung in einem parallelen Sinn genauso wie in der Sprache mit der Begrifflichkeit und der Gegenständlichkeit.

WF: Das heißt, Sie würden Ihre Untersuchungen in einer gewissen Analogie zur Forschung also rein auf visueller Ebene betreiben.

HG: Ja, will ich glaube ansonsten landet man wieder in einer bloßen Theorie, der die Anschaulichkeit fehlt. Das heißt, es geht nicht darum, bei diesen Arbeiten irgendwelche philosophischen Systeme oder Theorien zu illustrieren. Sondern umgekehrt sollen anhand dieser Texte bestimmte Probleme menschlicher Erkenntnis oder überhaupt unseres ganzen Umgangs mit den Dingen unmittelbar präsent werden. Das ist der Inhalt. Während ansonsten beispielsweise in der Literatur immer wieder Geschichten erzählt werden. Ich glaube Schoppenhauer hat einmal gesagt, dass es bei einem Roman nur darum geht, auf dreihundert Seiten, dass der Hans seine Grete findet. Also in diesem Zusammenhang steht diese Art von Sprachverwendung nicht.

WF: Ende der siebziger Jahre haben Sie begonnen, räumlich zu arbeiten. Sie haben Rauminstallationen erarbeitet. Gibt es hier eine logische Konsequenz aus dem früheren Werk? Ich meine, die Grundprinzipien sind eigentlich ähnlich, obwohl Sie oft auch nicht-sprachliche Zeichen in diesen Rauminstallationen verwenden.

HG: Ja, es hat mich schon öfters gestört, dass das Buch sozusagen so unterlegen ist in der Rezeption von Texten, dass eine summarische Betrachtungsweise immer überwiegt. Hingegen, wenn man dies in den Bereich der Körpergröße bringt, oder eben in größeren Räumen, dann ist ein völlig anderes Verhältnis zwischen Person – in der Rezeption – und dem Begriff und dem Wort. Das scheint mir, ist schon etwas, das diese Applikationen an die Wände rechtfertigt. Man hat ja gesehen – auch bei den Konzeptkünstlern, wie zum Beispiel bei Lawrence Weiner und so –, dass visuelle Momente doch plötzlich wieder eine große Rolle spielen. Man kann das sozusagen nicht ganz radikal auf die bloße Begrifflichkeit reduzieren, das wäre eine Art von Abstraktheit, die auch nicht sehr wünschenswert ist, sondern man muss zumindest die Möglichkeit haben, diese Arbeiten in einem größeren Rahmen erscheinen zu lassen. Und so ähnlich ist es auch bei Weiner. Die Amerikaner haben sich natürlich immer distanziert von diesen Entwicklungen in Europa und haben manchmal als Kritik durchblicken lassen, dass da halt eben mit sehr viel schmückendem Beiwerk gearbeitet wird. Aber man muss die Arbeiten anschauen, das gilt auch für Barry zum Beispiel. Sie selbst sind gezwungen, aus der Sache heraus plötzlich doch auch die Dinge als sprachliche Partikel visuell zu realisieren – unter Verwendung von Farben, ja sogar von Reliefs und von Plastiken usw.

WF: Es gibt eine Reihe von Rauminstallationen – eben auf der Basis von nicht-sprachlichen Zeichen –, bei denen der Betrachter nicht sofort erkennt, um was es sich handelt. Das Rezeptionsverhalten ist ein ganz anderes, ob ich ein Bild habe mit einer Horizontalen und einer Vertikalen, oder ob ich in der Galerie Horizontale und Vertikale nur durch vier Punkte an der Decke, am Boden und an den Wänden angedeutet vorfinde. Das heißt, der Betrachter muss das Szenario sozusagen betreten und muss erst die Zusammenhänge finden.

HG: Ein Teil meiner Arbeit besteht ja sozusagen aus nicht-sprachlichen Elementen, das ist aber nur scheinbar ein Widerspruch, denn in Wirklichkeit geht es da auch um diese Dinge, um diese Denkrealitäten, nicht? Es geht um diese Differenzierungen – fundamentaler Art muss man sagen, um die Präsentation von Unterschieden, Beziehungen usw., auf ganz radikale Weise eben. Man könnte da auch von Konzeptkünstlern irgendwelche Arbeiten anführen, die in diese Richtung gehen. Zum Beispiel gibt es einen Text von Weiner, wo er in riesigen Buchstaben das Wort „reduced“ hat – kennen Sie sicher. Von mir gibt es zum Beispiel den Text, den Sie ausgesucht haben für Bregenz. Mit dem Millimeter.

WF: Ein Milliardstel Millimeter.

HG: Da gibt es gewisse Affinitäten. Der Unterschied besteht darin, dass er sozusagen das Wort direkt verwendet, während ich auf dem Umweg über einen Zahlentext, im Grunde genommen mental, wenn man so will, dieselbe Problematik herstelle. Diese winzige Differenz, dieser winzige Abstand unter Verwendung riesiger Zeichen für diese Winzigkeit.

WF: Sie hatten eingangs sich kritisch über die Poesie geäußert. Ich denke mir, dass Sie dabei bestimmte Formen von Poesie gemeint haben, weil mir scheint es doch irgendwie, dass Texte von Ihnen einen gewissen poetischen Charakter haben. Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Wenn etwa der Text „abwesendes Objekt“ dasteht, dann kann man das logisch nicht nachvollziehen, aber man kann sich etwas dabei denken. Oder dann steht „am weitesten entfernt“ auf einer Wand, vor der man steht. Oder auf der einen Tafel „noch nicht sichtbar“ und auf der anderen „nicht mehr sichtbar“. Oder auch ein milliardstel Millimeter, 0,0000000001 mm. Ein befreundeter Ingenieur hat mir aufgezeichnet, wie man sich das vorstellen kann. Bei der Strecke von Bregenz nach Budapest entspricht ein Meter einem milliardstel Millimeter. So kann man es auf eine optische Ebene bringen. Oder, wie gesagt, man kann auch diesen gewissen poetischen Aspekt sehen.

HG: Na ja, es ist so, wahrscheinlich ist das, was man hier als poetisch betrachtet, überhaupt in der ganzen Kunst eine wichtige Realität. Die Frage ist nämlich nur der Kontext. In der Poesie wird natürlich immer mithereingenommen – etwas, das man als „Lebenswelt“ betrachtet. Ein Zusammenhang, der oft mit persönlichen Befindlichkeiten, mit Schicksalen, mit Schwierigkeiten oder erfreulichen Dingen zu tun hat, während hier diese Texte völlig aus diesem Lebenszusammenhang genommen sind, und dastehen eben als – vielleicht cerebrale Realität, wenn man das will. Natürlich, wenn eine Arbeit gut ist, dann hat sie vielleicht auch das, das man hier so mit großer Schwierigkeit als „poetisch“ bezeichnen kann. Das ist natürlich etwas, das sich nur schwer definieren lässt. Ich meine, in der Literatur wird versucht, es auf diskursive Weise herzustellen, da aber durch die bloße Präsentation von Wörtern. Das ist vielleicht der Unterschied, weil „am weitesten entfernt“, kann man zum Beispiel interpretieren als Sehnsuchtsmotiv – das wäre dann wieder literarisch. Man kann es aber auch zum Beispiel astronomisch betrachten, dann stößt man auf kantische Aporien des Unendlichen und Endlichen, weil wir können uns nichts Endliches vorstellen, aber Unendliches auch nicht. Man sieht, wie man anhand dieser wenigen Partikel zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen kann. Und das ist ja vielleicht für die Rezipienten, die sich nicht ununterbrochen damit beschäftigen, ein gewisser Vorteil, weil sie können eine Reihe von Texten auch ganz auf ihre Weise, aus ihrem Zusammenhang an Erfahrungen mit Literatur usw. interpretieren, oder es tritt ihnen so entgegen.

WF: Ihr Werk umfasst bislang in etwa zweitausend Arbeiten, und es fällt auf, dass immer wieder auch ältere Themen aufgenommen, variiert, abgeändert werden, in einem neuen Zusammenhang auftauchen. Sie können immerhin auf weit über dreißig Jahre Schaffen zurückblicken, wie sehen Sie selbst Ihre Entwicklung?

HG: Ich glaube nicht, dass eine besondere Entwicklung festzustellen ist, es gibt natürlich schon irgendwelche Arbeiten, die anders sind als am Anfang. Aber man könnte wahrscheinlich den Begriff des Fortschritts, der immer so missbräuchlich verwendet wird in der Kunst, den könnte man da nicht anwenden. Es ist, wie Sie gesagt haben, eher so ein Kreisen um bestimmte Möglichkeiten und es würde wahrscheinlich nicht so einfach sein, etwas spätere Texte von etwas Früherem klar zu unterscheiden.

WF: Das heißt aber auch, dass Sie immer wieder irgendwelche Ihnen in der Vergangenheit entgangene Aspekte sehen, die Sie dann möglicherweise anhand derselben Begriffe wiederum aufarbeiten.

HG: Ja, das kommt vielleicht aus der Überzeugung, dass man es nicht, wie manche Künstler machen sollte, die plötzlich ihr ganzes Konzept über den Haufen werfen und etwas ganz anderes machen, das keinen Zusammenhang mehr mit der vorherigen Arbeit hat. Das scheint mir gefährlich, da könnte ich einige Beispiele anführen. Die sind dann oft unerhört schlecht geworden, das geht bis in die prominentesten Namen hinein. Genaugenommen malt der Maler immer an einem Bild, übertrieben gesagt, und man arbeitet eigentlich immer am gleichen. Natürlich schon mit bestimmten Erfahrungen, die gewisse Modifikationen überhaupt erst ermöglichen, das ist klar. Aber die Kontinuität ist ohne, dass man es will, bewahrt, wenn man nicht bewusst etwas völlig anderes machen will. Und das erschiene mir wirklich problematisch, weil man dann wahrscheinlich von dem, was man sich durch Erfahrung erworben hatte, völlig abkommen wird. Und man müsste von einem Nullpunkt aus wieder anfangen. Ich glaube nicht, dass mein Zugang ein bewusstes Festhalten an überkommenen Formen ist, sondern die Formen entstehen auf eine ähnliche Weise, weil man an derselben Sache arbeitet. Man muss es genau umgekehrt sehen.

WF: Aber Sie würden nicht sagen, dass das obsessiven Charakter hat, wenn man zum Beispiel, was mit Ihrem Werk vielleicht sehr wenig zu tun hat, On Kawara hernimmt oder Miroslaw Balka oder Hanne Darboven? Das ist obsessiv.

HG: Ich glaube, dass eine Sache nur bestimmte Möglichkeiten hat und die muss man so weit wie möglich erforschen oder damit arbeiten. Und das ist auch der Grund der Kontinuität. Es ist erstaunlich wie wenig sich viele Künstler, nachdem sie einen bestimmten Punkt erreicht haben, von der fundamentalen Idee entfernen. Oft sind es nur winzige Modifikationen, die aber dann natürlich in der Bewertung entscheidend sind. Das heißt, das ist keine Kleinigkeit, sondern diese kleinen Veränderungen sind dann für den Künstler selber und für Freunde, welche die Arbeit schätzen, ganz wichtige Veränderungen. Es sind winzige Veränderungen von außen betrachtet, aber für den Künstler ist es oft unerhört schwierig, auch nur wenige Veränderungen hineinzubringen, so dass man sich nicht wiederholt. Und das ist das andere Problem, dass man plötzlich schematisch nur immer das gleiche macht. Das hat auch keinen Sinn! Es kann allerdings Programm sein, solche Künstler gibt es auch, die sich bewusst ununterbrochen wiederholen, das gibt es auch.

(Wien, Juni 1997)

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