raise the dead

(P)ARS PRO TOTO. Gespräch mit Douglas Gordon

Hans-Ulrich Obrist: Douglas, in Deinen Arbeiten gab es von Anfang an dieses Hin und Her zwischen dem, was Du im Atelier, im institutionellen Rahmen machst, und nicht an einen Ort gebundenen Dingen wie Deinen Briefen an verschiedene Leute, deine Arbeiten in Form von Telefonanrufen.

Douglas Gordon: Ich glaube, es war so um 1990/91 – da lebte ich in einer winzigen Wohnung in Glasgow und es ging mir gar nicht so sehr um eine ethische Position, wie das in der Kunst der sechziger Jahre der Fall war. Es war eher eine pragmatische Entscheidung: wie kann man als Künstler in Glasgow, ohne Geld und ohne Raum, ohne Studio leben. Ich dachte nicht an eine Ablehnung der Institution, sondern daran, daß Institutionen und Galeriesystem in Schottland nicht in der Form existieren wie in anderen Teilen Europas. Ich wollte also nur meine Ideen verbreiten. Und eine Möglichkeit, das zu tun, ist per Post oder Telefon. Wenn man Leuten Briefe schreibt oder sie anruft, dann ist man irgendwie gar nicht so weit von ihnen entfernt, wie es geografisch gesehen scheint.

HUO: Dein Großbild in Wien, wird fast wie Straßenmalerei sein.

DG: Manches ist wiederum in einer öffentlicheren Situation besser. Du bist schließlich ein Mensch und Du hast viele Ideen, also sehen wir uns die Ideen an, die sich in Museen besser machen, weil sie auf der Straße einfach blöd wirken – und die, die auf die Straße gehören, weil sie im Museum blöd aussehen. So einfach ist das.

HUO: Diese Qualität der Mobilität, eine Strategie der Fluidität zu finden ist, wie etwa in Deinem Migrateur-Projekt am ARC mit den verschiedenen Erscheinungsformen – derselbe Satz als Graffiti auf der Toilette, als Virus im Telefonsystem und dann als Museumspräsentation.

DG: Man nimmt einen roten Ballon und läßt ihn auf der Straße fliegen, und dort steht er für eine Sache – in einem Haus bedeutet er wiederum etwas anderes. Weißt Du, wir verwendeten zum Beispiel für das Migrateur-Projekt einen Text, in dem es grundsätzlich um die Vergänglichkeit der möglichen Begegnung von zwei oder mehreren Leuten geht. Wenn man auf der Toilette sitzt und liest: „Von dem Moment, in dem Du diese Worte liest, bis Du jemanden mit blauen Augen triffst“, dann ist das anders als wenn dieser Text neben Sonja und Robert Delaunay hängt. Und es ist etwas anderes, als wenn man das am Telefon hört. Man hatte etwas offensichtlich endliches, den es sind Worte, es ist Sprache, die konkret scheint – aber damit, daß man die Worte in einen anderen Bereich einführt, können sie jedesmal für mehr Menschen mehr bedeuten.

HUO: Dein Großbild, ist das vierte in der Reihe „Vienna Strip“, Venturi spricht von „Decorated Shed“. Das ist auch eine Ausstellung, manchmal auch für einen Verkehrsstau, weil da jeden Tag Tausende von Autos vorbeifahren. Die Leute, die im Stau stecken, einen Blick auf ein Detail dieser Welt erhaschen. Der Gedanke des pars pro toto scheint eine Konstante Deiner Arbeiten zu sein. Wenn ich da etwa an Deine Namensliste denke, dann ist das ein enzyklopädisches Projekt, das natürlich immer unvollständig bleibt.

DG: Es war nie wichtig, daß die Menschen immer alles sehen können. Ich glaube, der Gedanke, daß es da noch einen fehlenden Teil gibt, heißt, daß man Bedeutung nicht absolut klinisch definieren kann und das gefällt mir vielleicht sogar. Wenn man eine Aussage machen kann, bei der ein Teil fehlt, kommen die Leute zurück und schauen sich die Aussage immer und immer wieder an.

HUO: Bei Deinem Satz für Wien hast Du ja jetzt beschlossen, daß es interessant wäre, die Hälfte zu streichen.

DG: Als wir ursprünglich darüber sprachen, dachte ich an zwei separate Sätze auf demselben Großbild: einer sollte sein „Der Film ist tot“, was heute schon so verbreitet ist wie „die Malerei ist tot“. Und dabei gefiel mir der Gedanke, wenn Malerei und Film tot sind, warum „erwecken wir die Toten nicht zum Leben“. Der Gedanke an eine Wiederbelebung der Toten ist in jeder Kultur auf jeder Ebene absolut tabu. Wenn jemand tot ist, soll man das zu Kenntnis nehmen und den Toten tot sein lassen, die Toten zum Leben erwecken, das erinnert an Zombies, Geister, Erscheinungen und Doppelgänger. Es war grundsätzlich der Gedanke, die Toten zum Leben zu erwecken, aber nicht nur im Bezug zum Film, sondern im Hinblick darauf, wo diese Phrase in der Kultur ihren Platz hat, und nicht nur in der Kultur, sondern auf der Straße in Wien. Ich war daran interessiert, was andere bei ihren Großbildgestaltungen gemacht hatten – Gerhard Richter, Ed Ruscha oder Walter Obholzer. Sie hatten die Kunst fast auf die Straße getragen, und das wollte ich nicht wiederholen. Mir gefiel die Idee, die Straße auf die Straße zu bringen, auf hyperrealistische Weise, und es sollte eine Straße aus einer anderen Stadt sein, die verpflanzt wird. Das Foto wurde in Glasgow aufgenommen, wir zeigen es in Wien. Die Sprache ist Englisch in einer deutschsprachigen Stadt. Man sieht das hyperrealistische Bild in Schwarz-Weiß, aber es ist farbig, der Satz „raise the dead“ selbst ist ganz einfach, jedoch gleichzeitig asozial, heidnisch, nicht ins 20. Jahrhundert gehörig. Er läuft den rationalen Prinzipien zuwider, auf denen moderne Städte aufbauen.

HUO: Deine Arbeit werden mit einer Art von literarischer neo-gothic Bewegung, die vor allem in den USA bekannt ist, in Verbindung gebracht.

DG: Dieser Gedanke war auch neulich Gesprächsthema bei der Ausstellung in Rom. Ich habe diese Bilder von mir als Monster (mit Hilfe von Klebeband) gemacht und es ist wirklich ein häßlicher Anblick. Da gibt es die Assoziation zu Alighiero und Boetti; sein Glauben an Erkenntnissysteme, die anders sind als die der Menschen. Lord Byron hieß in Wirklichkeit George Gordon, wahrscheinlich bestand irgendwann einmal eine verwandtschaftliche Verbindung – und dann all die seltsamen Dinge, die Byron und Shelley anstellten, wenn sie versuchten, Tote zu erwecken und Geister zu beschwören. Ja, das alles interessiert mich.

HUO: „raise the dead“ ist keine nostalgische Aussage. Ich habe sie in Richtung Jonas Mekas interpretiert, seine Skepsis im Hinblick auf „100 Jahre Kino“, womit der Film fast zu Grabe getragen wird, seinen Gedanken, daß der Film eigentlich mit der Avantgarde der zwanziger Jahre begann. Deine Arbeiten spielen manchmal, besonders bei diesem schwarz-weißen Großbild, sehr stark auf den Avantgardefilm an. Sie wirken manchmal fast wie Standbilder und lassen die Möglichkeit offen, daß das Kino erst mit der Erfindung des 60 mm-Films im Jahr 1923 begann. Hat die Tatsache, daß das Kino in eine Erneuerungsphase tritt, damit zu tun, daß wir uns dem Ende eines Jahrtausend nähern?

DG: Es ist nichts besonderes dran, das Kino totzusagen. Wenn es aber tot ist, was machen wir dann damit? Lassen wir es damit bewenden oder sehen wir es uns genauer an und entdecken, daß es für unsere digitale Generation auf gewisse Weise nichts Nostalgisches an sich hat. Ein Geist ist ein Problem, weil er keinen Bezug zum Alltag herstellen kann. Die Idee gefällt mir – indem man die Toten zum Leben erweckt, führt man einen Bruch herbei, in diesem Fall vielleicht ein Bruch im Leben der Stadt. Die Toten zum Leben zu erwecken, das hat etwas Seltsames an sich, wenn man am Abend heimfährt und an Geister denkt. Sind diese Dinge eigentlich wirklich tot? Natürlich ist das eine endliche Aussage, aber ich glaube, es gibt unendlich viele Interpretationen dazu, viele Fragen, die wegen der Einfachheit des Textes aufkommen. Warum sollte man die Toten zu Leben erwecken? Was passiert, wenn man die Toten zum Leben erweckt und wer ist tot?

HUO: Also eine Art Auslöser?

DG: Mir hat der Gedanke immer gefallen, daß Worte, die eigentlich konkret sein sollten, von einer anderen Person an einem anderen Ort benutzt eine völlige andere Bedeutung haben können. Wenn man etwas Geschriebenes liest, dann gibt es eine Stimme im Kopf, die einem vorliest und die Worte vorsagt. Wo kommt diese Stimme her? Wessen Stimme ist das? Ich glaube, das ist immer noch eine der wichtigen Wirkungen, die man nur mit einem Text erzielen kann und mit keinem anderen Medium – diese körperlose Stimme.

HUO: Sprache und Kontext?

DG: Ich entdeckte ein erstaunliches Madonna-Interview. Die Fragen wurden auf Ungarisch gestellt, für sie ins Englische gedolmetscht, die Antworten wurden dann wieder ins Ungarische übersetzt, und dann wurde alles wieder ins Englische übersetzt.

HUO: Wie siehst du in diesem Zusammenhang das Großbild?

DG: Ich glaube, daß das Großbild hier etwas Erstaunliches anzubieten hat – es liegt nicht auf derselben Wellenlänge wie das Internet, es enthält nicht dieselbe Menge an Information, die eine Zeitung enthalten muß. Er konnte viel Information aufnehmen, aber das war nicht die beste Nutzungsform. Ich glaube, der Standort bietet uns die Möglichkeit, etwas sehr Kleines aus einem größeren Kontext zu nehmen. Indem man nun „raise the dead“ aus dem Kontext nimmt und dort oben plaziert, in dieser Größe, auf diese fotorealistische Weise, ist ein Zeichen für Signifikanz und Verwendung dieses öffentlichen Zeichensystems. Wenn es der Größe nach signifikant ist und formal im Detail signifikant ist, dann bleiben die Leute stehen und lesen es und suchen darin einen Sinn.

HUO: Etwas, das Du immer in Deinen Briefen gemacht hast, und auch in Deinen Textarbeiten: Du hast den Gedanken des Zeugnisses angesprochen, daß der Betrachter ein Zeuge ist – für ein Geheimnis oder für etwas sehr Privates im möglichst öffentlichen Raum.

DG: Es fährt dann jemand am Gebäude der Secession vorbei nach Hause. Er oder sie sieht den Text „raise the dead“, der nichts und vielleicht alles bedeutet. Was tut dieser Jemand? Fährt er weiter und vergißt das Ganze oder fährt er weiter und sagt daheim zu Freund/in oder Sohn oder Tochter: „Hast Du das schon gesehen? Was kann das heißen?“ Kunst – egal, ob im Museum oder außerhalb des Museums – ist etwas, was die Menschen dazu bewegen sollte, heimzugehen oder in ein Lokal und darüber zu reden. Wenn sie im Endeffekt über andere Dinge reden, dann ist das auch in Ordnung, weil die Kunst dann der Auslöser einer sozialen Dynamik war.

HUO: Du sprichst oft von der Auslöserfunktion für Gespräche, Klatsch, Gerüchte, Diskussionen oder Diskurs was auch immer es sein mag – große oder kleine Geschichten. Die Soziologie hat den Begriff der „oral history“, viele Performances der sechziger Jahre – viele verschiedene Events, bei denen vielleicht nur 5 Leute dabei waren – sind uns durch die Aussagen dieser Leute bekannt, es ist fast wie ein Kettenbrief.

DG: Ich glaube, der Gedanke oder die Mechanismen der Mythologie gehören zu den wichtigsten sozialen Mechanismen. Für mich ist das von ganz zentraler Bedeutung. Wie Du sagst, alles, was sich in den sechziger Jahren abspielte, wie manche Joseph Beuys-Performances. Als Künstler einer anderen Generation hat dazu nur durch mündliche Überlieferung aus zweiter, dritter, vierter Hand einen Bezug. Es ist meiner Meinung nach ein unglaublicher sozialer Mechanismus, durch den Menschen, die keine Erfahrung mit dem Gegenstand, der Handlung haben, über etwas einen Dialog aufnehmen können, das zunächst nicht einmal existiert hat. Ich glaube, das ist ein schöner, grundlegender Aspekt menschlicher Beziehungen. Und das Menschen, die in einem Zimmer oder einem Lokale zusammensitzen, eine Art Sprung ins Ungewisse zu machen bereit sind, auf einen Gegenstand zu, den es vielleicht nie gegeben hat, auf eine Handlung zu, die sich vielleicht nie abgespielt hat, und die darüber diskutieren wollen, so richtig über alle Umstände.

HUO: Unsere Geschichte verändert die Geschichten. Ich sprach vor kurzem mit Rirkrit Tiravanija über Rezepte und deren Mutationen. So ist es, glaube ich, auch mit den Geschichten, mit denen Du arbeitest: sie mutieren.

DG: Ich glaube, mein familiärer Hintergrund kommt aus dem Geschichtenerzählen. Du kennst das, weil Du mit Glasgow vertraut bist. Die Leute sitzen und erzählen die ganze Zeit über Geschichten.

HUO: Da hast urbane Fragen im Zusammenhang mit dem Großbild angesprochen. Interessant ist der Gedanke des Graffiti, der darin impliziert ist. Das Graffiti in Glasgow, aber auch die Frage der Übersetzung. Kein Zufall, daß wir von dem Madonna-Interview gesprochen haben, das von einer Sprache in die andere übersetzt wurde. Das Graffiti wurde in Glasgow auf Englisch geschrieben, und Du übersetzt oder überträgst es auf mehrfache Weise – räumlich, zeitlich. Dann ist da noch die Frage nach dem Schwarz-Weiß. Felix Gonzalez-Torres sagte immer zu mir, das Subversivste ist, an einem Ort Schwarz und Weiß zu verwenden, an dem man Farbreklame haben kann.

DG: Was man sieht, ist eigentlich nur das Foto eines Ausschnitts aus einem Graffiti in Glasgow, das nach Wien gebracht und vergrößert wurde. Die Entscheidung, in dieser Größenordnung mit Schwarz und Weiß zu arbeiten, geht auf den Bezug zu einer Großbildleinwand in einem Autokino zurück – der Bezug zu Schwarz und Weiß ist offensichtlich – und damit stellen die Menschen die Beziehung zum Kino her. Das ist in dem Gedanken begründet, daß Schwarz und Weiß oft mehr wirken als superreale Farben. Das Leben auf der echten Welt läuft in Echtzeit und in echten Farben ab, aber plötzlich ist da ein Einschnitt – wie ich in mit Film und Video vornehme. Mir gefiel der Gedanke, daß man im Zentrum der Stadt etwas haben konnte, was die Wirklichkeit durchschneidet, eine Darstellung der Wirklichkeit, die gleichzeitig davon entfernt ist, weil sie in Schwarz-Weiß gestaltet wurde.

HUO: Das ist eine Übertragungsvariante.

DG: Es ist eine Übertragung. Ich glaube aber, es ist keine formale Übertragung zwischen Farbe einerseits und Schwarz-Weiß andererseits, sondern eine Übertragung in der Zeit.

HUO: Das bringt mich zum Begriff des Ready-made. Deine Arbeit hat ja bestimmte Ready-mades untersucht. Jemand bezeichnete sie einmal als unterstützte Ready-mades. Ich würde lieber über Ready-mades in der Zeit reden. Duchamp hatte sie vorhergesehen, aber sie wurden nie untersucht. Es mußte erst eine Künstlergeneration der neunziger Jahre kommen, um zu dieser Art Ready-made in der Zeit zu gelangen. In Duchamps Notizen aus den zwanziger Jahren gibt es eine entsprechende Spekulation, zwei Arten von Ready-mades werden beschrieben. Einerseits gibt es das eher räumlich aufgefaßte Ready-made: ein Objekt wird in die Galerie gebracht, indem man es verlegt, in einen anderen Kontext bringt, dort regelrecht erstarren läßt, worauf es (auch wenn der Geschmack hier ausgeschaltet ist) sehr schnell zum Gegenstand des Geschmacks und vor allem zum Fetisch wird. Duchamp beschrieb deshalb eine zweite Form von Ready-made in seinen Aufzeichnungen, die eigentlich schon Anweisungen sind, zum Beispiel in den zwanziger Jahren, die ungefähr lautet: kauf ein Wörterbuch und streiche alle Wörter, die Du nicht magst. Es ist eigentlich etwas, was man in der Zeit lesen kann. So habe ich das immer gesehen, was Du mit Filmen machst, von Psycho 24 Hours zu den Dokumentarfilmen, wie etwa das Archivmaterial, das Du zerschnippselt und in einen neuen Zusammenhang setzt. The Searcher, der Film von John Ford, ist natürlich das extremste Beispiel für ein Ready-made in der Zeit.

DG: Eines der wichtigsten Dinge für mich bei der Duchamp-Lektüre war das Schachspiel mit der nackten Frau in Los Angeles. Das bedeutete wirklich, gesellschaftliche Aktivitäten als Ready-made aufzufassen, sie ins Museum zu bringen und die Leute mit der Zeit praktisch zu erschlagen, weil es so lange dauerte. Ich spiele nicht Schach, aber die Grundidee gefällt mir, die langfristige Strategie und die Tatsache, daß der Zuschauer das unglaubliche Gefühl hat, das Leben ist angehalten, weil jeder rundum sich völlig auf diesen langsamen Wettkampf konzentriert.

HUO: Ich sprach kürzlich mit Walter Hopps darüber, der in Pasadena, die erste Duchamp-Retrospektive, die es je in einem Museum gegeben hatte organisiert hat. Walter Hopps sagte, er habe von Duchamp gelernt, daß ein Kunstwerk nie im Weg stehen sollte.

DG: Das ist genau mein Prinzip: Kunst ist eigentlich eine Ausrede, um einen Dialog anzufangen. Da ich keine Kunst sammle, mache ich sie. Und als Kunstproduzent zählen für mich die Ideen. Die Objekte sind mir nicht wirklich wichtig.

HUO: Also ist es wirklich ein Prozeß und kein Fetisch, wie Adorno behauptete. Natürlich ist da die Vorstellung, daß die Ausstellung praktisch wie ein Film aufgefaßt werden soll. Ich meine damit die Art, wie Du mit Ausstellungsstücken verfährst, scheint mir im Hinblick auf die Wirklichkeit der Ausstellung interessant. Wenn ich an Deine (Film)Leinwände denke – einerseits bringst Du sie in den Raum, anderseits gibt es auch eher die Möglichkeit zu aktiven Beteiligung.

DG: Ich versuche auf gewisse Weise, die Dinge so einzurichten, daß die Menschen sich daran erinnern, wie sie als Kinder die ersten Erfahrungen mit dem Fernsehen oder mit Popmusik oder Film machten. Wenn man zum ersten Mal ins Kino geht, versucht man doch als Kind als allererstes, die Hand zu heben und zu versuchen, die Projektion zu stören, nur um zu erfahren, was dann passiert. Dann kann man sich entscheiden, ob man weitermacht, um alle rundum zu ärgern oder aufzuhören. Diese Dinge tragen wir, glaube ich, alle in uns umher, und wir können das Museum wirklich auf gewisse Weise wiederbeleben.

HUO: Die Arbeiten von John Latham, basieren, auf der Zeit. Deine Arbeit baut in diesem Sinn auch auf der Zeit auf. Wo liegen die Unterschiede?

DG: Ich glaube wirklich, daß der Unterschied zwischen unserer Generation und anderen Generationen darin liegt, daß wir nicht einmal mit einem Fluß von Bildern umgehen müssen, oder einem Fluß von Informationen – es ist eine regelrechte Flut, wir werden überschwemmt. Auch die Art, in der dieses Gespräch abläuft, ist symptomatisch dafür – so viele andere Dinge passieren.

HUO: Broodthaers sagte: „Jede Wahrheit ist immer von anderen Wahrheiten umgeben, die es auch wert sind, erforscht zu werden.“

DG: Seit wir in diese Wohnung gekommen sind, wo wir miteinander sprechen, und während wir in Echtzeit miteinander reden, erinnern wir uns daran, was vor fünf Minuten passiert ist, wir antizipieren die nächste Frage, wir hören die Straßenarbeiten draußen, es gibt ein Fernsehgerät, das Telefon läutet, Musik läuft – aber wir können das als Menschen bewältigen. Allerdings befinden wir uns im auslaufenden 20. Jahrhundert. Ich glaube nicht, daß Broodthaers so leben könnte, oder daß jemand wie Duchamp so gelebt haben könnte. Du hast die mündliche Überlieferung angesprochen. Mündliche Überlieferung wird übersetzt (übertragen) und man erinnert sich daran als Serie von Bildern wie in Yeates Theater der Erinnerung, Für unsere Generation ist der Bilder- und Informationsstrom geradezu unglaublich. Es ist unglaublich, wenn man andere Leute beim Surfen im Internet beobachtet, weil es nicht nur um den Empfang von Bildern geht. Die meisten Leute surfen im Internet, während sie fernsehen, Musik hören, reden und trinken, alles zu gleicher Zeit, und telefonieren tun sie dabei womöglich auch noch. Es ist fast bei der Idee des Manifesta Projekts von Uri Tzaig, wo ein Fußballspiel läuft und beim selben Spiel zwei Bälle verwendet werden. Ich sehe ein Stadion mit einem Fußballspiel mit zwei Bällen und Tennisbällen und vielleicht noch ein paar Pferden, die umherlaufen usw. Für mich ist das eine Art schizophrenes Nebeneinander in einem einzelnen Körper. Diese Schizophrenie muß sich nicht immer so äußern, daß ein Körper kämpft, um sich zwischen den verschiedenen Persönlichkeiten durchzusetzen, sondern der Kampf der Persönlichkeiten, um einen Körper zu bewohnen. Das ist die Richtung, die unser Leben eingeschlagen hat, im Jahr 1996, auf dem Weg ins Jahr 2000, eine absolut schizophrene Erfahrung. Wir sehen das überall. Wien ist eine besonders schizophrene Stadt, vor allem in Bereichen, wo der Verkehr mit hoher Geschwindigkeit an einem Großbild vorbeiströmt, das einen dazu auffordert, eine Minute zu verweilen.

HUO: Also das Paradoxon des dynamischen Stillstands.

DG: Es spielt sich in der Größenordnung des Kinos, des Films ab, und die Menschen möchten, daß sich im Film etwas bewegt - aber stoppen wir, wie in The Searchers, fünf Jahre lang. Greifen wir beinahe auf die Konventionen des Films zurück und erwecken wir die Toten zum Leben, indem wir ihnen neues Leben einhauchen Es geht hier nicht um ein großes philosophisches Argument gegen das Kino, nur eine Art, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten, um zu sehen, was geschieht.

HUO: Der Prozeß, den Du beschreibst ist auch eine Auflösung der Hierarchie.

DG: Mir gefällt der Gedanke, den Flaneur ins 21. Jahrhundert zu verpflanzen, wo er nicht nur in der Stadt spazieren geht. Wir durchleuchten die Dinge nicht, wir fischen mit dem Schleppnetz. Ich mag dieses Bild aus der Fischerei. Wenn Du einen Schleppkahn hast und das Netz weit genug auswirft, kriegst Du oft nicht nur das, was Du fangen möchtest. Manchmal sind gefährliche Fische im Netz, häßliche Dinge. Du holst aber alles ein und schaust es Dir genau an, da ist auch viel Mist dabei. Das bringst uns zu Andy Warhol, so hat er nach Bildern gesucht. Wir sind, noch besser in der Lage, mit dem Schleppnetz zu fischen, weil wir keine hierarchischen Unterscheidungen mehr machen müssen. Für mich entspricht der John Ford-Film dem Pornofilm, den ich in San Francisco gefunden habe, der wiederum der wissenschaftlichen Dokumentation über Wahnsinn gleichzusetzen ist, der wieder dem Film über Fliegen entspricht. Das ist etwas, was man nur mit dem Ready-made machen kann alles auf dieselbe Stufe erheben. Ich glaube nach wie vor, daß das eines der großen Dinge ist, die die Kunst zu leisten imstande ist, weil wir nicht im etablierten –System arbeiten. Die Aufgabe des ersten Künstlers ist es, das System zum Zusammenbruch zu bringen und es den Menschen zu ermöglichen, aus diesem System herauszupicken und herauszufiltern, was sie interessiert. Man weiß nicht, daß es Kunst ist, es sieht eben interessant aus.

HUO: Parallel zum Wiener Großbild machst Du eine Ausstellung im Nanomuseum, dem kleinsten Museum.

DG: Es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen Nano und Giga. Die meisten Leute sehen das Großbild im Gesamtzusammenhang des Stadtbildes und darin kann das Großbild wiederum sehr klein aussehen. Mit dem Nano-Museum kann man schlafengehen und es sich fünf Zentimeter von den Augen entfernt vor's Gesicht halten, dann wird es zum gesamten Blickfeld. Da gibt es für mich keinen hierarchischen Unterschied. Wie es immer so schön in den Sex-Handbüchern heißt – die Größe ist nicht wichtig, sondern das, was man damit anfängt.

HUO: Du arbeitest auch immer wieder locker mit Freunden zusammen.

DG: Ich habe mit Craig Richardson, Roddy Buchanan zusammengearbeitet, Projekte mit Jackie Donnachie, Graham Gussin, Simon Patterson, Rirkrit Tiravanija, Liam Gillick gemacht, es wird noch mehr geben. Zwei Leute können zu einem Zeitpunkt ihres Lebens etwas miteinander machen, was paßt. Man muß deswegen nicht heiraten oder auf ewig zusammenbleiben, aber man kann eine nette Affaire miteinander haben und sich dann wieder trennen und mit jemandem anderen neu anfangen. Für unsere Generation, die AIDS-Generation, ist die Kunst vielleicht einer der wenigen Bereiche, wo man noch promiskuitiv sein kann.

HUO: Die Wissenschaft bezeichnet die neunziger Jahre als Jahrzehnt des Gehirns. Die neunziger Jahre sind auch das Jahrzehnt der Mutation.

DG: Wenn die hochgeschätzten Wissenschafter sagen, die neunziger Jahre sind das Jahrzehnt des Gehirns, dann ist das phantastisch, denn niemand weiß, wie das Gehirn funktioniert. Dann heißt das, daß die neunziger Jahre das Jahrzehnt ist, in dem keiner mehr weiß, wie irgendetwas geht. Wir sagen beide, daß wir uns nicht mehr an die achtziger Jahre erinnern können. Ich bezweifle, daß wir uns viel von den neunziger Jahren merken werden. Vielleicht ist das Langzeitwirkung des Informationsüberflusses. Vielleicht hat der einfache Zugriff unserer Generation auf die Information dazu geführt, daß kein Interesse daran besteht, eine Hierarchie aus diesen Informationen zu bilden – keine Passivität, einfach der Mangel an Willen, die Information hierarchisch zu ordnen – möglicherweise muß das die nächste Generation tun. Ich glaube, derzeit sind wir Schleppnetzfischer und die nächste Generation wird nach Spezi-Fischen Ausschau halten.

HUO: Was ist nun mit dem „Objekt“ inmitten der Informationsflut?

DG: Als einer, der sich andere Bilder aneignet, weiß ich, daß viel von dem Material, das ich vorübergehend konkretisiere, dann etwa ins Internet geht oder in Zeitschriften oder bereits von anderen Leuten verwendet wird.

HUO: „Art for all“ wie Gilbert & George immer sagen?

DG: Derzeit sehe ich nicht viele Leute, die mit unmöglich großen Bildern oder unmöglich schweren Skulpturen arbeiten. Die Leute tauschen eher Gedanken aus.

HUO: Die neunziger Jahre führen und auch mehr und mehr weg vom einengenden und beschränkenden Konzept des Eigentums. Buckminster Fuller war der große Pionier, er sagte immer, daß Wohnen eine Dienstleistung sei, warum also ein Haus besitzen?

DG: Ich habe eigentlich nie gedacht, daß Leute Kunst besitzen. Ich erinnere mich daran, daß ich mit einem furchtbaren Kater bei irgendjemand zu Auto aufwachte und als allererstes einen phantastischen Marcel Broodthaers sah, – und das war meine Erfahrung, es war egal, wem es gehörte, es war meine Erfahrung, die ich mitnahm, nicht physisch, sondern psychisch. Und für mich ist es auch unmöglich, sich den Eigentümer einer Idee vorzustellen.

HUO: Wie sieht es mit Kunst als Dienstleistung aus?

DG: Die Leute sollten in Museen gehen, um sich dort Sachen zu holen.

HUO: Letzte Frage: Vor vier oder fünf Jahren sagtest Du: „Wir sind Menschen der neunziger Jahre und nicht aus den Sechzigern. Ich glaube wirklich, daß die besten Künstler, die derzeit auf der ganzen Welt arbeiten, versuchen, neue Bereiche zu erschließen.“ Wie sehen für Dich diese neuen Bereiche heute, fünf Jahre später aus?

DG: Wie auch immer sie vor fünf Jahren ausgesehen haben mögen, sie haben sich schon wieder völlig verändert. Alles verschiebt sich ständig – physisch und politisch. Von 1991 bis 1996 haben sich in Osteuropa die Grenzen total verschoben, Manchmal sind die Veränderungen offensichtlich nicht zum Besseren, aber es bleibt die Tatsache, daß die Gebiete neu sind. Die Definition des Gebiets ist glaube ich eine persönliche Sache für den Künstler, aber auch eine professionelle Aufgabe für den Kurator, also möchte ich nicht derjenige sein, der die Gebiete definiert. Ich bin immer noch im Wald, ich finde nicht raus und sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht. Ich bewege mich noch immer weiter und weiß noch nicht, auf welchem Gebiet ich mich befinde. Ich wußte vor fünf Jahren nicht, wo ich stehe, und ich weiß es auch heute nicht.

HUO: In der Mitte von allem und im Zentrum von Nichts.

DG: Ja, das erinnert mich an die alten Wandzeichnungen: „Ich habe alles vergessen, ich erinnere mich an nichts, ich kann mich an nichts mehr erinnern.“ Je öfter man das sagt, desto definitiver wird der Zustand des Gedächtnisschwunds. Und das ist, glaube ich, ein herrliches Paradoxon in sich: der konkrete Zustand des Gedächtnisschwunds. Ein Widerspruch, aber ein hübscher.

TOP