Eiserner Vorhang 2009/2010

Eiserner Vorhang 2009/2010: Franz West, Drei – Vom Vorgang ins Temperament

Si alza il sipario ist der Moment in der Partitur, ab dem die meisten Regisseure, Sänger und Korrepetitoren anfangen, die Oper so richtig ernst zu nehmen. Was vor dem Heben des Vorhangs passiert, interessiert in der Regel den Dirigenten, der mittels Taktstock den Einsatz der Musik markiert, und den Inspizienten, der die Darsteller rechtzeitig zum Auftritt rufen muss. Die Zeitspanne vor diesem Ereignis ist äußerst unterschiedlich: in Tosca nicht einmal zehn Sekunden, in den Meistersingern fast fünf Minuten, je nach Dirigent und Temperament. Für das Publikum ist dieses Davor, Vorspiel oder Ouvertüre, der Beginn der Vorstellung, nicht aber der Handlung und somit von ambivalenter Bedeutung: Einstimmung, Sammlung, Wartezeit.

Umso bemerkenswerter ist die Initiative der Wiener Staatsoper in Zusammenarbeit mit dem museum in progress, die sich dem Zustand der Oper vor dem Beginn der Aufführung an sich widmet: die jährlich wechselnde Gestaltung der Brandschutzwand zwischen Bühne und Zuschauerraum, genannt Eiserner Vorhang.

Franz Wests Beitrag für die Spielzeit 2009/2010 mit dem Titel Drei – Vom Vorgang ins Temperament ist eine Collage aus Tempera-Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre, die während verschiedener Griechenlandaufenthalten entstanden sind. Die unbekümmerte Nacktheit der drei Gestalten gemahnt an Strandnudisten in fast skulpturenartiger Haltung und scheint auf den ersten Blick nichts weniger zum Thema zu haben als eine bzw. die Oper.

Die weibliche, unvollständig sichtbare Gestalt scheint zum Teil im blauen Hintergrund zu verschwinden. Euridice, dem Nichts fast entschwunden oder im Nichts gerade wieder verschwindend? – von Orpheus noch oder wieder ungerettet? Die zweite männliche Figur dahinter – Hades selbst, oder Herakles als Retter im Wartezustand nach Ch. W. Gluck'scher Auffassung? Orpheus, Euridice und ein zweites Alphamännchen? Die Konstellation – zwei Männer, eine Frau – lässt viele Deutungen in Hinblick auf Handlungen in der Oper zu:

Zum Beispiel Parsifal (R. Wagner): Kundry, Parsifal und der leidende Amfortas (oder der wartende Klingsor?); oder Il Trovatore (G. Verdi): Leonora, der streitbare Manrico und der verzweifelte Graf Luna (oder umgekehrt?). Auch im 20. Jahrhundert ist dieses Prinzip allgegenwärtig, wie in Lady Macbeth (D. Schostakowitsch): Katharina, Ismailow und Sergei, und selbstverständlich auch im 18. Jahrhundert vorherrschend, wie in Idomeneo (W. A. Mozart): Illia, Idamante und der gestrandete Idomeneo. Die Liste ließe sich in alle Zeitrichtungen verlängern und beliebig erweitern.

In diesem Sinne kann Franz Wests Bild als Reflexion auf ein dramaturgisches Grundprinzip der Oper an sich verstanden werden. Diese Position gilt naturgemäß auch für das Theater, aber in der Oper müssen, zusätzlich zur Dramaturgie, Musik, Text und Handlung einander bedingen, damit sich die Psychologie zwischen den Figuren entfalten kann. Daher ist die Handlung in der Oper in der Regel überschaubarer und einfacher.

Bei dieser Mann-Mann-Frau-Konstellation ist aber nicht nur die erotische Konstellation berücksichtigenswert, sondern auch die in vielen Opern schon angedeutete Genderproblematik, wie zum Beispiel in La Fanciulla del West (G. Puccini) mit der äußerst selbstbewussten Minnie, dem wankelmütigen Johnson und dem frustrierten Sheriff Rance, oder etwa in Fidelio (L. v. Beethoven) mit Leonore (Fidelio), Pizarro und Florestan. Ebenso kann das Spiel der Macht in dem Bild seine Entsprechung einfordern: Lulu (A. Berg) mit Lulu, Alwa und Dr. Schön (oder Schigolch) oder Salome (R. Strauss) mit Salome, Herodes (oder Jochanaan) und Jochanaan (oder der bereits tote Narraboth).

Kehren wir zurück zur Nacktheit. Franz Wests erste Assoziation zum Thema Eiserner Vorhang war ein ironischer Gedanke: die Verdeckung des Eisenmenger-Bildes, das dem künstlerischen Stellenwert der Oper weitgehend als unangemessen gilt, durch Nacktheit. Auch dieser Ansatz ist nur im ersten Augenblick humoresk, denn wie Egon Friedell (in Kulturgeschichte der Neuzeit) schreibt: [.] der Mensch hat einen tiefen eingeborenen Hang, sich zu prostituieren, aufzudecken, nackt zu zeigen: nur kann er ihn fast nirgends befriedigen. Dies war schon die Wurzel der uralten Dionysoskulte, bei denen die Männer und Frauen sich im Rausche die Kleider vom Leibe rissen, was aber die Griechen nicht als schamlose Orgie sondern als ‚heilige Raserei’ bezeichneten.

Im Sinne eines neuzeitlichen Theaterverständnisses schreibt er kurz darauf: Im alltäglichen Leben wird dem Menschen von Staat und Gesellschaft die Aufgabe gestellt, möglichst geschickt nicht er selber zu sein, sondern immer Hüllen, Draperien, Schleier zu tragen. Immer ist der Vorhang unten, nur einmal ist er oben: eben im Theater. Gerade dort also, wo sich nach der falschen Ansicht des Laien der Herrschaftsbereich der Maske, Verkleidung und Verstellung befindet, springt der Mensch unvermummt, echter, ungeschminkter hervor als sonst irgendwo. Und als umfassende Deutung des Kosmos der Bühne: Das Theater ist eben mehr, als die meisten glauben: keine bunte Oberfläche, kein bloßes Theater, sondern etwas Entsiegelndes und Erlösendes, etwas schlechthin Magisches in unserem Dasein.

Dieses Magische, dieses Sich-nackt-Zeigen ist der Wiener Staatsoper, als Ort der heiligen Raserei, dank Franz West für eine Saison wiedergegeben. Das möge man beim Betrachten eventuell bedenken.

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