Art & Science 06

Man sieht nichts. Aber man sieht es.

Aus Gesprächen zwischen Heinz von Förster und Ernst Caramelle vom 12. und 13. März 1999, Pescadero, USA

Ernst Caramelle: Pescadero, am 12. März 1999. Schönes Wetter draußen. Wir schauen gerade hinunter von der Old Saw Mill zum Pazifischen Ozean, wundervoll. Und wir sind da, um uns zu unterhalten. Ja, über was eigentlich? Ich bin Künstler, du bist Wissenschaftler. 

Heinz von Förster: Nein, du bist Wissenschaftler, ich bin Künstler. 

EC: So kann man es auch sehen. In meiner Arbeit kann ich eigentlich nur Fragen stellen. Mich hat immer schon interessiert, daß die Kunst nicht nur der Ausdruck einer gewissen Bestätigung ist, sondern daß Kunst auch etwas auslöst in dir als visueller Mensch, aber auch im Kopf etwas macht: Was ist das eigentlich? Was sehe ich da? Also, daß die Kunst die Frage impliziert.

HvF: Na sage einmal, was, glaubst du, ist dann die Wissenschaft? Die wirft doch auch die Fragen auf.

EC: Die Wissenschaft ist ganz ähnlich. Aber da bin ich nicht ganz sicher. Das wäre eigentlich etwas, worüber wir uns unterhalten sollten.

HvF: Alles kommt vom Sehen, ich sehe plötzlich etwas. Ob ich jetzt ein Wissenschaftler bin oder ob ich ein Künstler bin. Ich habe eine neue Einsicht. Jetzt frage ich dich, siehst du die Kunst als etwas Monologisches oder Dialogisches. Das heißt, du produzierst als Künstler etwas – möchtest du damit etwas sagen? Und möchtest du mit einem anderen zusammen sein, wenn du Kunst machst?

EC: Wenn ich Kunst mache, nicht. Aber wenn eine Arbeit schon gemacht ist, zeige ich es ja auch, das ist ein gewisser Dialog.

HvF: Ist es so, daß du dem Zuschauer gerne ein Gespräch entlocken möchtest?

EC: Wenn ich arbeite, denke ich nicht zuerst an den Betrachter. Aber mich interessieren Leute, die ähnliche Ideen haben. So ist die Musik von John Cage für mich genauso wichtig wie ein Zugang zur Wissenschaft. Aber was trennt die Kunst von der Wissenschaft?

HvF: Schau, Trennung oder Zusammensehen ist eine Sichtfrage. Es gibt Menschen, die Zusammen-Seher sind, und es gibt Menschen, die Trenn-Seher sind. Also das Problem der Taxonomie, d.h. wo unterscheide ich, ist eine unerhört willkürliche Sache. Linnaeus beispielsweise hat bei Tieren die Ähnlichkeit untersucht, und Darwin hat sich diese Taxonomie angeschaut: Das könnte doch eine Evolution sein. Das sieht doch so aus, als ob A aus B entstanden wäre, und D aus C. Und plötzlich sieht man aus der Einordnung der Gestalten – also das ist doch ein künstlerisches Sehen –, wie ich die verbinde, und sehe, die gehören zusammen. Auf einmal entsteht eine Dynamik, wie eine Idee der Evolution, das hat noch nicht mit Evolution zu tun, das hat damit zu tun, daß Darwin die Ähnlichkeit und die Verwandtschaft der Formen gesehen, gefühlt hat.

EC: Was du jetzt gesagt hast, ist mir sehr nahe. 1979 in New York habe ich ein Buch gemacht, da gibt es wirklich Entsprechungen zu dem, was du jetzt sehr schön formuliert hast, die Sichtweise auf Dinge, die einfach da sind. Das Buch heißt „Forty Found Fakes“ und ist eine Sammlung von Zeitungsausschnitten, die durch die Zuordnung zu Künstlernamen Abbildungen von Werken sein könnten.

HvF: Darf ich was sagen zum Wort Abbildung? Ich würde es nur Bildung nennen. Abbildung hat immer die Idee eines Duplikats. „Mapping“ würde das im Englischen heißen. Als ob man eine Landkarte oder eine Karte von dem Zeug machen würde, von dem man spricht. Für mich sind das immer Bildungen. Wo ein Mensch hinschaut, ein Erlebnis hat und mir von diesem Erlebnis erzählt.

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EC: In deinem Buch hast du etwas gesagt, also ich kann es jetzt nicht nacherzählen, weil es sehr kompliziert ist, aber daß sich Dinge durch die Wiederholung verändern. Also, wenn man etwas immer wieder wiederholt .

HvF: . dann kommt dasselbe nicht wieder – man holt es nur wieder.

EC: So, wie wenn man immer wieder Dampfer sagt, immer wieder Dampfer, Dampfer, Dampfer, Dampf, verdammt, wie das Kinderspiel. Ich habe als Student ein Konzert geschrieben, das „Konzert für Klavier und Gespräch“. Einzelne Worte werden so oft wiederholt, daß sie ein neues ergeben, zum Beispiel: Belafonte Harry, Harry Belafon, Belafonti, Telefon, Telefon, . auf einen Teller – und es war mir wichtig, wie sich die Worte in der Zeit veränderten. Mit anderen Arbeiten ist es auch so, wenn ich etwas 15 Jahre später wieder zeichne, sehe ich es anders, man hat andere Zusammenhänge.

HvF: Da würde dir das Experiment, das wir bei uns auf der Universität durchgeführt haben, Spaß machen. Das Experiment ist von John Lilly erfunden worden, der folgendes beobachtet hat: wenn man ein Wort wieder und wieder ganz klar und deutlich ausgesprochen hört, beginnt das Wort sich im eigenen Kopf zu verwandeln. Er nannte das Wechselworte. Wir haben 200 bis 300 Studenten aufgefordert: Schreiben Sie die Worte, die Sie hören, sofort auf. Wir spielten ein Tape, das aus einer präzisen Wiederholung ein und desselben Wortes bestand, das dann per Lautsprecher übertragen wurde. Das Wort hieß cogitate – überlegen. Man hörte ungefähr zehn Minuten lang das Wort cogitate, cogitate, cogitate . Und wenn du das ein paar Minuten machst, dann hörst du ganz klar ein anderes Wort, wie z.B. getyourtape, getyourtape. bis hin zu chachacha. Wir haben das ungefähr eine halbe Stunde lang gespielt, und dann die Papiere mit den Notizen der Studenten eingesammelt. Wir haben 750 „alternates“ gefunden. Man hört die „alternates“ völlig klar, nicht daß du glauben könntest, du hörst nicht recht. Genau, was du da sagst. Es wird etwas wiederholt. Du holst es dir noch einmal, das heißt: es ist ja nicht dasselbe.

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EC: Als Künstler will ich die Idee in eine Form bringen. Solche „Formalisierungen“ gibt es ja auch in anderen Bereichen.

HvF: Ich habe gerne deinen Ausdruck „Formalisierung“. Die Sache bekommt eine Form.

EC: Ich finde, gerade die Form ist das, was zu einem Verständnis führt und herausfordert. Auch das normale Leben bringt solche Formalisierungen hervor, das könnten fast schon Kunstwerke sein. Mein Vater war Gendarm und er hat mir vor Jahren einmal eine sogenannte Tatbestandsmappe gezeigt. Die hat mich sehr beeindruckt. Eine graue Mappe mit einem rotweißen Bändchen und vier leeren Blättern. Ein glattes weißes Papier, dann ein rauhes weißes Papier, dann ein Transparentpapier mit Spinnenmuster und ein dunkles Tonpapier, das ist alles. Was macht man damit? Ganz einfach, auf das erste Blatt schreibt man: der Bauer Sowieso ist vom Traktor überfahren worden – Tatbestand. Nächste Seite, rauh: Zeichnung, Lageplan. Dann kommt das Foto geschützt vom Transparentpapier. Schwarzweiß auf dunklem Hintergrund. Jeder Tatbestand hat eine solche Mappe gehabt.

HvF: Das ist doch hochinteressant. Das ist die österreichische Republik.

EC: Jetzt gibt es das alles nicht mehr. Dafür gibt es den Computer. Für mich ist dabei wichtig, wie kann man das, was da passiert, aufnehmen und dann visualisieren?

HvF: Das deutsche Wort „Wissenschaft“, kommt von „Wissen“, „Gewissen“, „gewußt“. Und hat die griechische Wurzel „eidos“, das ist: zu sehen. Also Wissenschaft ist etwas, was man sieht. Und da gibt es Entsprechungen zu dem Wort „Kunst“. Denn Kunst kommt von „können“. Und „können“, ein Wissen „erkönnen“, „erwissen“, gehen alle auf dieselbe indoeuropäische Sicht-Wurzel zurück.

EC: 1974 habe ich eine Arbeit gemacht, „Video-Ping-Pong“. Zwei Fernseher, auf denen jeweils ein Tischtennisspieler zu sehen war. Dazwischen ein realer Tischtennistisch. Der Ball – man hat auch den Ton gehört – erscheint kurz im linken und dann im rechten Monitor, er wird scheinbar zwischen den beiden Geräten hin und her gespielt. Aber natürlich sieht man es nicht.

HvF: Man sieht nichts. Aber man sieht es.

EC: Aber man sieht's. Der leere Zwischenraum wird durch die Wahrnehmung und das Hören besetzt.

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HvF: Wenn du das Wort erklären ernst nimmst, dann wird auch etwas klar, wenn ich etwas erkläre. Und wenn es klar wird, dann wird es durchsichtig. Und was durchsichtig ist, sieht man nicht. Also, ich habe immer das Gefühl, wenn man etwas erklärt, dann ist das Problem weg. Und ich merke schon nicht mehr, daß ich was hätte sehen sollen. Man schaut durch. In diesem Zusammenhang wollte ich ja eine Anekdote erzählen, die ich von dem interessanten Anthropologen Carlos Castañeda gelernt habe. Castañeda fährt ins nördliche Mexiko, um einen Medizinmann, einen Zauberer namens Don Juan kennenzulernen, der ihn sehen lehren soll. Sie gehen ganz früh vor Sonnenaufgang durch die Steppe. Langsam geht die Sonne auf und es wird wärmer und wärmer. Auf einmal sagt Don Juan zu Carlos: schau, hast du das gesehen? Was gesehen? Du hast nichts gesehen? Ich habe nichts gesehen. Okay, dann gehen wir weiter. Und die Sonne kommt heraus und es wird heller und es wird heißer. Hast du das gesehen, Carlos? Was gesehen? Ich habe nichts gesehen. Also das passiert zwei- oder dreimal. Plötzlich sagt Don Juan, also Carlito, ich wundere mich, warum du überhaupt nichts siehst. Ich weiß wieso: du kannst nur Sachen sehen, die du erklären kannst. Vergiß das – denke doch nicht ans Erklären, schau doch. Ende der Geschichte.

EC: Ja, das erinnert mich an den Satz von Paul Valéry, über den wir heute gesprochen haben: Sehen bedeutet, den Namen des Gesehenen zu vergessen. Deine Texte sind deshalb so interessant für andere, weil auch immer Bilder da sind. Das Bild zieht dich da hinein und dann beginnen die Hirnzellen überhaupt erst zu arbeiten, weil man etwas vorgesetzt kriegt, wo man schneller ist, als wenn man selbst Bilder herstellen muß.

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HvF: Zum Sehenlernen und Hörenlernen gehört dazu, sich selber zu sehen und zu hören. Genau wie du gesagt hast, gibt es da verschiedene Strategien, den Studenten das nahezubringen.

EC: In meinem Kurs „Ungewöhnliches Zeichnen“ habe ich einmal einen Studenten gebeten, ein Bild zu beschreiben, ohne es zu beschreiben. Er durfte nicht sagen, das ist eine Figur, ein Sessel oder da ist eine Tür. Er sollte das Bild nicht nach seiner Erscheinung beschreiben, sondern es umschreiben, mit anderen Metaphern neu zusammensetzen. Die Beteiligten mußten sich auf eine völlig andere Vorstellungsebene begeben.

HvF: Lieber Ernst, auf einmal fällt bei mir der sogenannte Eiserne Vorhang runter. Ich bin ein bißchen früh aufgestanden, ich funktioniere im Moment nicht. Erlaube mir, mich für zehn Minuten hinzulegen. Da muß ich die Augen zumachen, still sein, und melde mich sofort wieder bei dir als ein normaler Mensch zurück.

(Textfassung: Isa Stech)

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