stealing eyeballs 05

Interview mit Reed Kram

Die Schreibweise folgt der Originalversion des E-Mail-Interviews.

Simon Hadler: du warst eines der gründungsmitglieder der legendären mit aesthetics and computation group. könnten du kurz die ziele der gruppe erklären?

Reed Kram: jedes mitglied der gruppe wird auf deine frage eine andere antwort geben. trotzdem, hier ist meine. das ziel und die große leistung der gruppe und von maeda ist es, dass es uns gelang, ein milieu zu schaffen, in dem man computerdesign ernst nehmen kann. zur zeit sind die digitalen medien ein bereich, dessen anliegen insgesamt in erster linie unmittelbarer kommerzieller gewinn ist. schulen für digitales mediendesign sehen sich veranlasst, ihre studenten so schnell wie möglich auf den weg zu finanziellem erfolg zu führen.
dadurch dass einer kleinen gruppe von menschen, die auf einem hohen niveau arbeiten, ein milieu außerhalb dieser bedingungen geboten wird, ist die gruppe in der lage, unzählige grundsätzliche designfragen zu stellen und vernünftige antworten auszuarbeiten. seit ich die gruppe verlassen habe, ist es meine aufgabe gewesen, herauszufinden, wie man sowohl diese fragen als auch die antworten weltweit anwenden kann.

SH: wie wendest du diese fragen und antworten weltweit an?

RK: ich bin immer weniger davon überzeugt, dass eine perfekte form viel verändern wird. in letzter zeit habe ich mich mehr mit fragen der infiltration, subversion, kontrolle und dem einfluss in einer globalen kultur beschäftigt. sicherlich ist das ein direktes ergebnis meiner arbeit mit prada und dem architekten rem koolhaas in den letzten eineinhalb jahren. in zusammenarbeit mit oma (der firma von koolhaas) habe ich eine reihe von interaktiven elementen/challenges für die neuen prada shops in new york, los angeles und san francisco entworfen. prada ist ein faszinierendes unternehmen. hier wird ein kommerzielles riesenreich von einer sehr kleinen gruppe von echten künstlern geführt. es ist erstaunlich. sie haben das potential dinge zu tun, von denen die meisten von uns nur träumen. bei all dem was da geredet wird, wie ist es möglich, dass ein digitales mediendesign dieses niveau von einfluss erreichen kann. leider kann ich sehr wenig von dieser arbeit zeigen, aber die ersten der neuen kaufhäuser eröffnen bald in soho in new york. Übersieh es nicht. 

SH: aber - der kürzeste weg zum finanziellen erfolg, den du vorhin erwähntest - ist das nicht, was die meisten schüler wollen?

RK: ja, genau das ist es. also, warum ist das nicht die norm? warum sind alle so in eile? aus irgendeinem grund stelle ich fest, dass ich ungeheuer viel zeit aufwende, um die beziehungen zwischen computerdesign und jeder anderen art von kreativer tätigkeit zu normalisieren. die meisten menschen suchen die silberne kugel, den zauberstab, wenn es um die digitalen medien geht. sie haben die fixe idee, dass es plötzlich für 'echte künstler' möglich sein wird, den computer zu benutzen. aber wann ist kunst je anders entstanden als durch ideen und harte arbeit? der computer ist ein schwieriges werkzeug, medium, freund, feind. aber genauso verhält es sich mit holz, mit ton, papier oder dem klavier. in jedem anderen kreativen bereich sind wir der meinung, dass sich der erfolg mit hilfe von talent, konzentration und bemühen einstellt. aber bei den digitalen medien erwarten wir, dass ein kurs in photoshop der trick ist; oder, was schlimmer ist, dass der computer eines tages die ideen für uns liefern wird. 

SH: du lehrst vor studenten an der universität. gibt es da noch aufmerksamkeit und interesse für - sagen wir einmal - gedanken hinter den kulissen, für wissenschaft und kunst?

RK: ich denke schon. zumindestens in den kursen, die ich unterrichtet habe, gibt es ein genügend großes interesse. die leute bitten mich, weiter zu unterrichten und so mache ich es. im allgemeinen ist das, was wir von den studenten des new media design erwarten, viel zu wenig. einer der kurse, die ich hielt, hieß 'the digital/physical border'. in dieser klasse gestaltete jeder der schüler nach eigenem entwurf eine reihe voll funktionierender interaktiver räume. jeder entwurf wurde in maximal drei, gewöhnlich vier tagen fertig gestellt. sie erarbeiteten mit drähten, verschweißungen, stromkreisen, lampen, lautsprechern, projektoren und programmierten das computerhirn eines jeden raumes selbst (es gab keine laborassistenten; der vorgang war komisch, lächerlich - vergiss nicht, es waren kunststudenten), und das ergebnis war ein großer erfolg. 
eines der ziele meiner kurse ist es, die teilnehmer dazu zu bringen, etwas zu tun, von dem sie nie gedacht hätten, dass sie es tun könnten, weder konzeptuell noch technologisch. das ist für mich sehr spannend. die technologischen grenzen der computermedien, so wie sie die meisten menschen sehen, existieren nur auf dem papier. wenn man diese grenzen ignoriert, indem man sie einfach schnell überwindet, sind wir in der lage, uns auf viel wichtigere ideen zu konzentrieren: auf bedeutung, aufmerksamkeit, milieu, gesellschaft etc. 

SH: ich habe das gefühl, dass sich die meisten künstler, die mit dem internet arbeiten, in richtung webdesign entwickeln (z.b. auf der ars electronica.)

RK: ich habe einiges an webdesign, das bald herauskommen wird, vielleicht ende dieses jahres. hoffentlich kann es etwas zum durchbruch beitragen. vielleicht nicht. aber man muss es weiter versuchen. ich denke, es ist wichtig, sich mit dem feind zu beschäftigen; der feind ist aber nicht die wirtschaft im allgemeinen. jedes design ist in einem gewissen sinn kommerziell. der feind ist die stagnation. gerade jetzt scheint webdesign eines von zwei dingen zu sein: entweder es ist streng kommerziell, d.h. streng funktional (design aufgrund von benutzerstudien) oder streng unkommerziell (design als ausdruck der gefühle des designers). für jede art gibt es große begrenzungen. 

SH: spielt ästhetik immer noch eine rolle im computerzeitalter nach dem motto "form follows function"?

RK: ist "form follows function" nicht das edikt des modernistischen maschinenzeitalters? sollten wir nicht für ein neues zeitalter ein neues manifest haben? die moderne als lebendige, kreative bewegung ist schon lange gestorben. ein manifest für das computerzeitalter ist in entwicklung begriffen. es ist im werden. welch eine aufregende zeit ist das, in der wir arbeiten! wir müssen irgendwie in der lage sein, uns von einer wörtlichen interpretation von form als ergebnis funktionaler benutzerstudien zu entfernen. form sollte auffordern, provozieren, erwecken, bewegen. wir müssen aus dem modernen leben, aus dem zeitgenössischen interesse eine dynamische form heraufbeschwören: weiträumig, urban, sozial, kulturell, technologisch etc., ohne grenzen. ästhetik im einklang mit zweck und konzept ist immer wichtig gewesen und ist es auch heute noch. ästhetik ohne zweck oder konzept hat nie eine rolle gespielt. 

SH: ja, das würde man meinen. wenn man sich aber die webdesign-führer ansieht, so handeln sie alle von "form follows function", ohne dieses konzept auch nur ein wenig in frage zu stellen. alles andere wird noch immer für avantgarde gehalten? 

RK: das ist richtig. man kann sich sicherlich fragen, ob webdesign tatsächlich ein zeitgenössisches design ist. bringt webdesign neue ideen? meistens nicht, außer der tatsache, dass etwas im web ist und die neueste technologie anwendet. 

SH: wenn man die meisten deiner projekte ansieht, so scheint es, dass offline-architektur und informationsarchitektur immer mehr siamesischen zwillingen gleichen. eines deiner letzten projekte, living, zeigt beide konzepte in einem. bist du der meinung, dass wir schon beginnen, in informationsräumen zu leben?

RK: wir haben immer schon in informationsräumen gelebt. jeder physikalische raum ist ein informationsraum. die objekte und prozesse, die uns ständig umgeben, geben uns hinweise auf die information, die sie enthalten oder mitteilen. die letzten entwicklungen bezüglich informationstechnologie ermöglichen es uns einfach, dieselben prozesse mit größerer freiheit, schneller und über größere entfernungen hinweg zu transformieren und zu übertragen.

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