Symposium 05

Vom Kulturräsonnement zum Kulturkonsum

Bereits 1962 analysierte Jürgen Habermas den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ infolge der Neuen Medien

Die sozialstaatlichen Massendemokratien dürfen sich, ihrem normativen Selbstverständnis zufolge, nur solange in einer Kontinuität mit den Grundsätzen des liberalen Rechtsstaates sehen, wie sie das Gebot einer politisch fungierenden Öffentlichkeit ernst nehmen.

Entwicklungslinien des Zerfalls bürgerlicher Öffentlichkeit

Auf dem Wege vom kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum hat, was sich einst als literarische Öffentlichkeit von der politischen noch unterscheiden ließ, den spezifischen Charakter eingebüßt. Die durch Massenmedien verbreitete „Kultur“ ist nämlich eine Integrationskultur: sie integriert nicht nur Information und Räsonnement, die publizistischen Formen mit den literarischen Formen der psychologischen Belletristik zu einer von human interest bestimmten Unterhaltung und „Lebenshilfe“; sie ist elastisch genug, sich gleichzeitig auch Elemente der Werbung zu assimilieren, ja, selber als eine Art Super-Slogan zu dienen, der, gäbe es ihn nicht schon, zum Zwecke von public relations für den Status quo schlechthin hätte erfunden werden können. Die Öffentlichkeit übernimmt Funktionen der Werbung. Je mehr sie als Medium politischer und ökonomischer Beeinflussung eingesetzt werden kann, um so unpolitischer wird sie im ganzen und dem Schein nach privatisiert.

Das Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit rechnete mit der strikten Trennung des öffentlichen vom privaten Bereich, wobei die Öffentlichkeit der zum Publikum versammelten Privatleute, die den Staat mit Bedürfnissen der Gesellschaft vermittelt, selbst zum privaten Bereich zählte. Im Maße der Verschränkung des öffentlichen mit dem privaten Bereich wird dieses Modell unanwendbar. Es entsteht nämlich eine repolitisierte Sozialsphäre, die sich weder soziologisch noch juristisch unter Kategorien des Öffentlichen oder Privaten subsumieren läßt. In diesem Zwischenbereich durchdringen sich die verstaatlichten Bereiche der Gesellschaft und die vergesellschafteten Bereiche des Staates ohne Vermittlung der politisch räsonierenden Privatleute.

Das Publikum wird von dieser Aufgabe durch andere Institutionen weitgehend entlastet: einerseits durch Verbände, in denen sich die kollektiv organisierten Privatinteressen unmittelbar politische Gestalt zu geben suchen; andererseits durch Parteien, die sich, mit Organen der öffentlichen Gewalt zusammengewachsen, gleichsam über der Öffentlichkeit etablieren, deren Instrumente sie einst waren.

Der Prozeß des politisch relevanten Machtvollzugs und Machtausgleichs spielt sich direkt zwischen den privaten Verwaltungen, den Verbänden, den Parteien und der öffentlichen Verwaltung ab; das Publikum als solches wird in diesen Kreislauf der Macht sporadisch und auch dann nur zu Zwecken der Akklamation einbezogen. Die Privatleute müssen, soweit sie Lohn- oder Gehaltsempfänger und Leistungsberechtigte sind, ihre öffentlich relevanten Ansprüche kollektiv vertreten lassen. Die Entscheidungen aber, die ihnen als Verbraucher und als Wähler individuell verbleiben, geraten in demselben Maße, in dem ihnen öffentliche Relevanz zukommt, unter den Einfluß ökonomischer und politischer Instanzen.

Soweit die gesellschaftliche Reproduktion von der Verbrauchsentscheidung und der politische Machtvollzug von der Wahlentscheidung der Privatleute noch abhängt, besteht ein Interesse, darauf Einfluß zu nehmen – hier, um den Absatz zu steigern, dort, um den Stimmenanteil der oder jener Partei formell zu vergrößern oder um informell dem Druck bestimmter Organisationen ein größeres Gewicht zu geben. Der soziale Spielraum der privaten Entscheidungen ist zwar durch objektive Faktoren wie Kaufkraft und Gruppenzugehörigkeit, überhaupt durch den sozioökonomischen Status, präjudiziert. Innerhalb dieses Spielraums lassen sie sich aber um so eher beeinflussen, je mehr das ursprüngliche Verhältnis von Intimsphäre und literarischer Öffentlichkeit sich umgekehrt hat und eine publizistische Aushöhlung der Privatsphäre ermöglicht. So tritt denn der Kulturkonsum auch in den Dienst ökonomischer und politischer Werbung.

Ursprünglich garantierte Publizität den Zusammenhang des öffentlichen Räsonnements sowohl mit der legislativen Begründung der Herrschaft als auch mit der kritischen Aufsicht über deren Ausübung. Inzwischen ermöglicht sie die eigentümliche Ambivalenz einer Herrschaft über die Herrschaft der nichtöffentlichen Meinung: sie dient der Manipulation des Publikums im gleichen Maße wie der Legitimation vor ihm. Kritische Publizität wird durch manipulative verdrängt. Wie sich, mit dem Prinzip der Publizität, gleichzeitig die Idee der politisch fungierenden Öffentlichkeit und ihre tatsächliche Funktion wandeln, zeigt sich daran, daß sich der – noch vom Liberalismus prätendierte – Zusammenhang von öffentlicher Diskussion und Gesetzesnorm auflöst und nicht länger beansprucht wird.

Da die Trennung von Staat und Gesellschaft überwunden wird und der Staat vorsorgend, verteilend und verwaltend in die Gesellschaftsordnung eingreift, läßt sich die Generalität der Norm als Prinzip nicht mehr durchweg halten.
Im gleichen Maße, in dem jene wechselseitige Durchdringung von Staat und Gesellschaft eine Privatsphäre auflöst, deren Eigenständigkeit die Generalität der Gesetze ermöglichte, wurde auch der Boden des relativ homogenen Publikums räsonierender Privatleute erschüttert. Die Konkurrenz organisierter Privatinteressen dringt in die Öffentlichkeit ein. Mochten einst die, auf dem gemeinsamen Nenner des Klasseninteresses neutralisierten, weil privatisierten Einzelinteressen in gewisse Rationalität und auch Effektivität öffentlicher Diskussion gestatten, so ist an deren Stelle heute die Demonstration konkurrierender Interessen getreten. Der im öffentlichen Räsonnement ermittelte Konsensus weicht dem nichtöffentlich erstrittenen oder einfach durchgesetzten Kompromiß. Den auf diesem Wege zustande gekommenen Gesetzen läßt sich, selbst wenn ihnen das Moment der Allgemeinheit in vielen Fällen erhalten bleibt, das Moment der „Wahrheit“ nicht länger indizieren; denn auch die parlamentarische Öffentlichkeit, die Stätte, an der sie sich auszuweisen hatte, ist zerbrochen.

Der ursprüngliche, bei Kant so deutlich ausgeprägte Zusammenhang der politisch fungierenden Öffentlichkeit mit einer Herrschaft der Gesetze fällt zwischen diesen beiden Gesetzesbegriffen hindurch. Der veränderten Struktur des Gesetzes ist anzusehen, daß dem Grundsatz der Publizität die Aufgabe einer Rationalisierung politischer Herrschaft nicht mehr zugemutet wird. Das mediatisierte Publikum ist zwar, innerhalb einer immens erweiterten Sphäre der Öffentlichkeit, unvergleichlich vielseitiger und häufiger zu Zwecken der öffentlichen Akklamation beansprucht, aber gleichzeitig steht es den Prozessen des Machtvollzugs und des Machtausgleichs so fern, daß deren Rationalisierung durch das Prinzip der Öffentlichkeit kaum noch gefordert, geschweige denn gewährleistet werden kann.

Verbrauch von Entspannungsreizen statt Realitätsgerechtigkeit

Was sich derart in der Tagespresse erst andeutet, ist in den neueren Medien schon fortgeschritten: die Integration der einst getrennten Bereiche von Publizistik und Literatur, nämlich Information und Räsonnement auf der einen, Belletristik auf der anderen Seite, bringt eine eigentümliche Realitätsverschiebung, geradezu eine Verschlingung verschiedener Realitätsebenen zustande.

Auf dem gemeinsamen Nenner des sogenannten human interest entsteht das mixtum compositum eines angenehmen und zugleich annehmlichen Unterhaltungsstoffes, der tendenziös Realitätsgerechtigkeit durch Konsumreife ersetzt und eher zum unpersönlichen Verbrauch von Entspannungsreizen ver-, als zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft anleitet. Funk, Film und Fernsehen bringen den Abstand, den der Leser zum gedruckten Buchstaben einhalten muß, graduiere zum Verschwinden – eine Distanz, die die Privatheit der Aneignung ebenso verlangte, wie sie die Öffentlichkeit eines räsonierenden Austausches über das Gelesene erst ermöglichte.

Mit den neuen Medien ändert sich die Kommunikationsform als solche; sie wirken darum, in des Wortes strikter Bedeutung, penetranter als die Presse je es vermochte. Das Verhalten de Publikums nimmt unter dem Zwang des „Don't talk back“ eine andere Gestalt an. Die Sendungen, die die neuen Medien ausstrahlen, beschneiden, im Vergleich zu gedruckten Mitteilungen, eigentümlich die Reaktionen des Empfängers. Sie ziehen das Publikum als Hörende und Sehende in ihren Bann, nehmen ihm aber zugleich die Distanz der „Mündigkeit“, die Chance nämlich, sprechen und widersprechen zu können.

Das Räsonnement eines Lesepublikums weicht tendenziell dem „Geschmacks“- und „Neigungsaustausch“ von Konsumenten – noch das Reden über das Konsumierte, „die Prüfung der Geschmackskenntnisse“, wird zum Teil des Konsums selbst. Die durch Massenmedien erzeugte Welt ist Öffentlichkeit nur noch dem Scheine nach; aber auch die Integrität der Privatsphäre, deren sie andererseits ihre Konsumenten versichert, ist illusionär.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatte das bürgerliche Lesepublikum im intimen Briefwechsel so gut wie in der Lektüre einer daraus sich entwickelnden psychologischen Roman- und Novellenliteratur eine literaturfähige und publizitätsbezogene Subjektivität kultivieren können. In dieser Gestalt interpretierten die Privatleute ihre neue Existenzform, die ja auf dem liberalen Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatsphäre beruhte. Die Erfahrung der Privatheit ermöglichte das literarische Experiment mit der Psychologie des Bloß-Menschlichen, mit der abstrakten Individualität der natürlichen Person.

Indem heute die Massenmedien die literarischen Hülsen von jenem Selbstverständnis der Bürger abstreifen und sich ihrer als der gängigen Formen für die öffentliche Dienstleitungen der Konsumentenkultur bedienen, verkehrt sich der ursprüngliche Sinn. Die sozialisierten Muster der psychologischen Literatur des 18. Jahrhunderts, unter denen Sachverhaltes des 20. für human interest und die biographische Note aufbereitet werden, übertragen einerseits die Illusion integrer Privatsphäre und intakter Privatautonomie auf Verhältnisse, die beidem die Basis längst entzogen haben.

Andererseits werden sie auch politischen Tatbeständen so weit übergestülpt, daß sich Öffentlichkeit selber im Bewußtsein des konsumierenden Publikums privatisiert; ja, Öffentlichkeit wird zur Sphäre der Veröffentlichung privater Lebensgeschichte, sei es, daß die öffentlich relevanten Entwicklungen und Entscheidungen ins private Kostüm gekleidet und durch Personalisierung bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden.

Der Zerfall der literarischen Öffentlichkeit faßt sich in dieser Erscheinung noch einmal zusammen: der Resonanzboden einer zum öffentlichen Gebrauch des Verstandes erzogenen Bildungsschicht ist zersprungen; das Publikum in Minderheiten von nicht-öffentlich räsonierenden Spezialisten und in die große Masse von öffentlich rezipierenden Konsumenten gespalten. Damit hat es überhaupt die spezifische Kommunikationsform eines Publikums eingebüßt.


Auszüge aus: Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1990. (Dieses Buch, erschienen 1962, gilt als zentraler Klassiker der Kritik der Massenmedien. Es zeigt, wie der Verfall der Öffentlichkeit eine Bedrohung der Gesetzesnorm und der Demokratie impliziert.)
Weitere Publikationen von Jürgen Habermas: Die Normalität einer Berliner Republik (1967), Technik und Wissenschaft als Ideologie (1975), Die Neue Unübersichtlichkeit, Bd.1 und 2 (1985, 1996), Die nachholende Revolution (1990).

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