Symposion 08

Wir waren Blitz und Donner. Über die Zusammenarbeit mit Guattari

Lieber Jean-Jacques, 

Du fragst mich, wie wir einander begegnet sind und wie wir, Félix Guattari und ich, begannen, miteinander zu arbeiten. Ich kann Dir dazu nur meine Eindrücke schildern. Die Version von Félix sähe vielleicht anders aus. Sicher ist, daß es kein Rezept und kein vorgefertigtes Muster gibt, wenn Philosophen oder Künstler zu zweit oder zu mehreren arbeiten wollen.

Unsere Begegnung fand knapp nach dem ominösen Jahr 1968 in Frankreich statt. Ein gemeinsamer Freund meinte, wir müßten einander unbedingt kennenlernen. Doch auf den ersten Blick gab es keine Voraussetzung dafür, daß wir uns verstehen würden. Félix Guattari betrieb immer eine Vielzahl von Aktivitäten parallel, in der Psychiatrie, der Politik und der Gruppen- oder Kommunenidee. Er war ein Gruppenmensch oder wie ein Meer: immer in Bewegung, mit ständigen aufgesetzten Lichtern.

Wenn man dagegen eine Metapher für mich selber sucht, dann ist es wohl der Hügel: Ich bewege mich kaum, ich bin unfähig, zwei Dinge zugleich zu tun, meine Gedanken drehen sich um ein paar fixe Ideen. Die wenigen Bewegungen, die ich ausführe, sind innerlich. Ich liebe es, allein zu sein, um zu schreiben. Und ich rede nicht gerne, außer in Vorlesungen, da meine Rede da einem Gegenüber ausgesetzt ist. Félix und ich hätten zusammen vielleicht einen guten japanischen Sumo-Kämpfer abgegeben.

Wenn man Félix näher betrachtete, bemerkte man aber eine große Einsamkeit. Zwischen zwei Aktivitäten, oft auch in mitten vieler Leute konnte er in tiefe Isolation versinken. Er zog sich dann zurück, um Klavier zu spielen, zu lesen oder zu schreiben. Dabei bin ich selten einem Mann begegnet, der ebenso kreativ gewesen wäre und so viele Ideen hervorgebracht hätte. Vor allem hat er diese Ideen ununterbrochen verändert, umgedreht und ihnen neue Figuren gegeben. Er konnte auch brüsk das Interesse an ihnen verlieren, sie sogar vergessen, um sie später umso überraschender aufzugreifen und etwas ganz anderes aus ihnen zu machen. Seine Ideen glichen Zeichnungen und Diagrammen.

Mich dagegen interessierten immer die Begriffe. Meine These war schon früh, daß Begriffe eine eigene Existenz besitzen, daß sie in gewissem Sinn „belebt“ sind und unsichtbare Lebewesen darstellen. Nur bedürfen sie dazu einer Sache, nämlich einer Schöpfung. Man muß sie erschaffen, sie „kreieren“ wie ein Bild oder eine Komposition. Félix mit seinem „diagrammatischen“ Denken und ich, mit meinem begriffsorientierten Denken, waren also grundverschieden. Dennoch hatten wir plötzlich Lust, zusammen zu arbeiten. Wir wußten zunächst nicht recht wie. Wir lasen viel aus allen Wissensgebieten, vor allem Ethnologie, Wirtschaftswissenschaft und Linguistik. Das waren nur Materialien, aber ich war fasziniert davon, welche Schlüsse Félix daraus zog, und er war interessiert an den philosophischen Injektionen, die ich einbrachte.

Als wir begannen, den „Anti-Ödipus“ (1972) zu schreiben, war uns bald klar, was wir ausdrücken wollten: eine neue Sicht des Unbewußten als Maschine und Fabrik; und eine neue Konzeption des Wahns als Position zur historischen, politischen und sozialen Wirklichkeit.

Wie aber sollten wir vorgehen? Wir begannen zunächst mit langen, ungeordnet verfaßten Briefen, die buchstäblich oft endlos ausfielen. Dann versuchten wir es mit Schreibsitzungen über mehrere Tage oder Wochen. Das ist überaus anstrengend, andererseits aber lachten wir auch die ganze Zeit. Jedesmal, wenn es notwendig war, erfanden wir einen neuen Begriff. Das so entstandene Buch hat eine eigene Kraft, die sich weder durch Félix erklären läßt noch durch mich.

Unsere Unterschiede störten uns sehr, waren uns aber auch sehr behilflich. So hatten wir zu keinem Zeitpunkt den gleichen Rhythmus. Félix warf mir immer vor, daß ich die langen Briefe nicht beantwortete, die er mir oft zusandte. Dazu war ich aber adhoc gar nicht fähig. Zwei oder drei Monate später halfen sie mir dann oft sehr. Aber Félix war schon ganz woanders.

In unseren gemeinsamen Arbeitssitzungen sprachen wir eigentlich nie miteinander. Immer sprach der eine, und der andere hörte zu. Ich ließ Félix nicht los, um seine Ideen zu präzisieren, auch wenn er längst genug hatte. Er aber verfolgte mich geradezu mit seinen Ideen, selbst wenn ich schon nicht mehr konnte. So nahm der eine oder andere Begriff nach und nach ein selbständiges Dasein an, auch wenn wir ihn dann später auf recht unterschiedliche Weise auffaßten. Unsere „Arbeit zu zweit“ wurde solcherart niemals zur „Angleichung“ unserer beiden Denkweisen, sondern sie schuf immerfort Fortsetzungen, Abzweigungen und Verwicklungen, was wir „Rhizom“ nannten. Félix war wie der Blitz, ich dagegen wie der Donner, leitete die Ideen unter die Erde, bis sie wieder auftauchten und Félix sie transformierte usw. Das war die eigentümliche Bewegung unseres Duo- Denkens. 

Bei „Tausend Plateaux“ (1980), unserem zweiten Buch, verhielt es sich etwas anders. Der Aufbau dieses Buches ist komplexer und die behandelten Wissensgebiete ungleich umfassender. Aber wir hatten uns derart an die Zusammenarbeit gewöhnt, daß der eine ahnte, was der andere wollte. Unsere Gespräche wurden immer verrückter, und von den verschiedensten Abschweifungen aus versuchten wir Brücken und Resonanzen herzustellen, nicht mehr zwischen uns beiden, sondern zwischen den extrem unterschiedlichen Wissenschaften, die wir gleichzeitig bearbeiteten. Die besten Momente bei der Abfassung dieses Buches waren das Ritornell und die Musik, die „Kriegsmaschine“, der Begriff des Nomaden und des Nomadischen und die Vorstellung vom „Tier-Werden“. Da hatte ich den Eindruck, auf die Initiative von Félix hin unbekannte Reiche zu betreten, in denen fremdartige Begriffe hausen. Dieses Buch hat mich persönlich erfüllt, ich kann es für mich persönlich bis heute nicht ausschöpfen. Das ist keine Eitelkeit, denn ich spreche nur für mich, den (Ko-)Autor, nicht für den Leser. Später war es unerläßlich, daß jeder von uns beiden wieder für sich selbst arbeitet. Zumindest, um wieder Atem zu schöpfen. Aber ich bin davon überzeugt, daß eine solche Zusammenarbeit im Grund niemals aufhört. 

(Übersetzt von Robert Fleck.)


Gilles Deleuze, geb. 1925 in Paris, wo er auch heute lebt. Deleuze ist seit „Anti-Ödipus“ (1972, deutsch 1974), dem mit dem Psychoanalytiker Félix Guattari verfaßten Kultbuch der siebziger Jahre, der einflußreichste Philosoph in Frankreich neben dem 1984 verstorbenen Michel Foucault. Sein heute weitgehend ins Deutsche übersetztes Werk thematisiert von der logischen Grundlegung des französischen Poststrukturalismus („Logik des Sinns“, „Wiederholung und Differenz“, 1968) bis zu „Tausend Plateaux“ (1980, mit Félix Guattari, deutsch 1992) die Kreuzung der verschiedenen Wissensfelder: bildende Kunst, Film, Literatur, Wissenschaft und Philosophie. Der Text wurde im Herbst 1994 in Briefform an den Happening-Künstler Jean-Jacques Lebel als Beitrag für das „Monument Félix Guattari“ (siehe Bild oben) verfaßt, das im Centre Pompidou als Hommage an Guattari stattfand, der 1992 durch Selbstmord aus dem Leben schied.

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