Sprachfelder 27

Bei uns in Wien / At home in Vienna

Klub Zwei 
Welche Orte in London sind Ihnen wichtig?

Josefine Bruegel
Ich mag die Gegend, in der ich wohne. Im Januar 1947 sind wir nach Hampstead Garden Suburb gezogen. Das ist ein sehr interessanter Vorort, der als soziales Experiment gedacht war. Das war einer der ersten Außenbezirke von berühmten Architekten und Architektinnen. Und von einer Lady aus dem Londoner East End, die eine Gesellschaft schaffen wollte, in der alle Schichten zusammenleben.

Ruth Rosenfelder
Meine Eltern kamen mit leeren Taschen nach England. Sie konnten überhaupt nichts mitnehmen. Es gibt weder Fotos noch Bilder, von nichts und niemandem. Einen Sinn für Kontinuität und Weitervererben habe ich nie gekannt. Denn alles, was meine Eltern besaßen, alles, was wir daheim hatten, wurde während des Krieges oder danach angeschafft. Deswegen war es mir auch so unangenehm, die Sachen meiner Eltern an mich zu nehmen, als sie starben. Es war, als ob ich sie stehlen würde, als ob sie nicht mir gehörten. Und ich habe ungefähr zehn Jahre gebraucht, bis ich das Gefühl hatte, ich kann diese Sachen verwalten. Zum Beispiel die Lampe hinter mir hat meinen Eltern gehört. Und ich freue mich, dass ich sie habe. Aber das hat seine Zeit gebraucht.

Anni Reich
Meine Mutter kam kurz vor dem Krieg nach London. Mit ihr kamen unser ganzes Gepäck und unsere Möbel. Und ich kann es noch immer hören. Wir haben zu der Zeit in einem Haus in Hampstead gewohnt, und als die Leute kamen und die Koffer brachten, war alles zerbrochen. Ich höre es noch immer! Das ganze zerbrochene Glas.

Elly Miller
Das Wissen um die schrecklichen Ereignisse überdeckt die eigenen Erinnerungen. Ich meine, wir hatten ja auch Spass auf dem Weg nach England. Als wir in Zürich auf den Zug warteten, waren mein Bruder und ich ziemlich schlimm. Und mein Vater war sehr böse auf uns und sagte: ‚Kinder, mit euch flücht' ich nie mehr!’1

Klub Zwei
Wie ist das für Sie, wenn Sie Ihrer Mutter zuhören?

Tamar Wang
Der große Unterschied liegt darin, wie sie jetzt erzählt, und in der Art, wie wir darüber reden. Als Kind habe ich immer nur Bruchstücke gehört, und für mich war ihre Geschichte auch vermischt mit grauenhaften Geschichten, über die nicht wirklich gesprochen werden konnte. Ich glaube, das Wissen über den Genozid und die Vernichtungslager bestimmt einfach alles.

Ruth Sands
Ab und zu wollte mein Vater über Wien reden, über irgendetwas aus der Zeit. Seine Sätze fingen immer an mit ‚Bei uns in Wien’. Und jedes Mal, wenn er ‚Bei uns in Wien’ sagte, wurde meine Mutter schrecklich wütend. Und sie hat jedes Mal das Gleiche geantwortet, immer auf Deutsch: ‚Es gibt nichts zu sagen.’ Also hat er sofort wieder aufgehört. Und meine Mutter hat nie, nie über die Zeit in Wien gesprochen. Sie ist aus Wien weggegangen als sie dreiunddreißig war, glaube ich, und es war, als hätte ihr Leben erst mit dreiunddreißig begonnen.

Klub Zwei
Warum haben Sie ihr Buch „The Unsung Years“2 genannt?

Lisbeth Fischer-Leicht Perks Der Titel soll deutlich machen, dass diese Jahre nicht gefeiert worden sind, gesungen im Sinne von besungen, und doch waren es außerordentlich wichtige Jahre für mich.

Klub Zwei
Sie sagten, Sie haben das Buch für Ihre Kinder geschrieben?

Lisbeth Fischer-Leicht
Perks Ja, aber auch um meiner Familie zu gedenken, die sehr gelitten hat und von der einige Angehörige in diesen Jahren umgekommen sind. So war das Buch also zum Teil eine Hommage an jene, die starben, und zum Teil ein Versuch, meinen Kindern und meinen Freundinnen und Freunden die Verhältnisse verständlich zu machen, die in historischen Dokumenten vielleicht nicht so verständlich oder nicht so zugänglich sind.

Rosemarie Nief
Gestern habe ich über die wissenschaftliche Forschung zum Holocaust nachgedacht. Die meisten dieser Arbeiten konzentrieren sich auf die Erfahrungen der Männer. Das hat sich erst seit kurzem, in den letzten 20 Jahren, verändert – dass auch die Frauen über ihre Erfahrungen schreiben. Ich glaube, dass sie das vor dem Krieg gängige Bild der verwundbaren, passiven und machtlosen Frau zerstört haben. Wenn sie über ihren Kampf schreiben, stellen sie Eigenschaften wie Flexibilität, Intelligenz und Entschlossenheit dar. Ich finde, ihr Kampf, ihr Erfolg und ihr gesellschaftlicher Beitrag ist eine Inspiration für alle Frauen.

Klub Zwei
Waren Sie jemals in Österreich oder Deutschland?

Nitza Spiro
Es gibt viele interessante Dinge in der Welt. und ich habe es vermieden, dorthin zu fahren. Ich weiß nicht genau, was mit meiner Familie passiert ist. Ich weiß, dass sie ermordet wurde. Aber wer genau sie umgebracht hat und wo? Und so habe ich gedacht, vielleicht sitze ich im Bus und neben mir sitzt jemand, der oder die tatsächlich an der Ermordung meiner eigenen Familie beteiligt war. Wissen Sie, man ist skeptisch. Und ich fand auch, sie verdienen weder meine Freundschaft noch meine Nicht-Freundschaft.

Katherine Klinger
Ich habe ein paar wirklich nette Leute in Wien getroffen. Aber ich mache diese Arbeit nicht, um nette Leute zu treffen. Ich will wissen, was auf einer tieferen Ebene vorgeht. Was mich eigentlich am meisten fasziniert und abgestoßen hat, ist diese ganze Geschichte mit Österreich als ‚erstes Opfer’. Als wir die Konferenz in Wien vorbereitet haben, schickte dieser deutsche Wissenschaftler den Titel seines Vortrags durch. Und der Titel lautete: ‚Wie spricht man über den Strick im Haus des Henkers?’. Ich übersetzte diesen hochinteressanten Titel ins Englische. Und ich übersetzte ihn folgendermaßen: ‚How does one speak about the rope in the house of the hangman?’. Meine österreichischen KollegInnen schrieben mir zurück und meinten: „Vielen Dank für Deine Übersetzung, aber Du hast den Titel ein wenig fehlerhaft übersetzt. Denn die Übersetzung ist: ‚How does one speak about the rope in the house of the hanged?’“3 Da habe ich begriffen, dass das aus ihrer Sicht tatsächlich ihre Position war. Und das ist die Position, Österreich als ‚erstes Opfer’ zu sehen.

Klub Zwei
Wo sehen Sie den Unterschied zwischen dem Freud Museum in London und dem in Wien?

Erica Davies
Ja, ich denke, dort wird Freud in seinem Wiener Kontext repräsentiert. Und wir sind ein Museum des Exils. Denn wir repräsentieren auch die große Emigrationsbewegung nach Großbritannien. Und Wien repräsentiert eine Abwesenheit.

Geraldine Auerbach
1996 haben wir in London zusammen mit dem österreichischen Kulturinstitut ein Festival österreichisch-jüdischer Kultur veranstaltet. In unserer Filmreihe zeigten wir Stadt ohne Juden. In diesem Film werden die Jüdinnen und Juden aus der Stadt vertrieben. Dann realisieren die Regierenden, um wieviel ärmer die Stadt durch den Verlust dieser Bevölkerungsgruppe geworden ist, und sie laden die jüdische Bevölkerung zur Rückkehr ein. Unglaublich, dass dieser Film 1924 in Österreich gedreht wurde. Ich frage mich, wer diesen Film damals sah und was daraus gelernt wurde. Und damit meine ich nicht nur den schrecklichen Teil des Jahrhunderts sondern auch das Heute.


1 Alle Kursiva im Original Deutsch
2 Die nicht gesungenen Jahre
3 Wie spricht man über den Strick im Haus
des Gehängten?

‚Things. Places. Years. Das Wissen jüdischer Frauen. Absenz und Präsenz. Wien und London’, ein Dokumentarfilm in process von Klub Zwei, produziert von amourfou, GB/A 2003; Übersetzung: Jo Schmeiser, Johanna Schaffer

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