TransAct 69

TransAct Statement

Die Kunst der Moderne und die Nazis. Ein Alptraum

Was wäre passiert, wenn die Nazis die moderne Kunst zum offiziellen Stil erklärt hätten? Allein der Gedanke erscheint idiotisch. Man hat uns beigebracht, dass die Diktatur ihren eigenen Geschmack hat: Realismus mit Muskeln! Wie also hätte es geschehen können, dass die deutschen Expressionisten und ihre Nachfolger – wunderbare Maler wie Beckmann und Kirchner, Kokoschka und Nolde – Kulturheroen der nationalsozialistischen Volkserhebung geworden wären? Immerhin, es hätte so sein können. Und wenn sie es geworden wären, wäre unsere heutige Wahrnehmung der Kunst vollkommen anders.

Noch immer herrscht der Glaube, die Nazis seien durchwegs grimmige Anti-Moderne gewesen. Damit verbunden ist die Annahme, die avantgardistischen Maler im Deutschland der dreißiger Jahre gehörten zur politischen Linken. Nichts davon stimmt. Otto Dix z. B. ist für seine Bilder aus den Schützengräben des 1. Weltkriegs berühmt, die hauptsächlich in den zwanziger Jahren entstanden. Werke dieser Art wurden nach 1945 sofort als Ausdruck eines linksgerichteten Pazifismus identifiziert, und tatsächlich hatte bereits nach 1933 der sozialistische Flügel der anti-nationalsozialistischen Emigration Otto Dix als Verbündeten reklamiert. Die zwanziger Jahre aber waren eine andere Epoche, und Dix war kein Kommunist – im Grunde war er ziemlich unpolitisch.

Die Malergeneration, zu der Otto Dix gehörte, wird als „Neue Sachlichkeit“ bezeichnet. Einige seiner Zeitgenossen, wie sein Freund George Grosz, waren Kommunisten oder Sozialisten unterschiedlichster Richtung. Viele aber dachten anders, und ihr Glaube an den Weltuntergang und ein neuerliches Versinken in Blut und Chaos war jenen Auffassungen nicht unähnlich, welche die konservativen Revolutionäre dazu brachte, sich der nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen.

Diese kurzen Bemerkungen führen uns vor die Minenfelder, die sich zwischen den diversen Meinungen zum Thema auftun. Die Oberflächen sind hier trügerisch. Versuchen wir, im Weitergehen die vergrabenen Minen vorsichtig zu orten.

Welche Kunstausstellung war die erfolgreichste des 20. Jahrhunderts? Erfolgreich, was die Besucherzahlen und die nachhaltige Wirkung auf die Entwicklung der Kunst in der Folgezeit betrifft. Die Antwort, fürchte ich, ist in höchstem Grade unangenehm: Es war die Ausstellung „Entartete Kunst“, die am 19. Juli 1937 von Adolf Hitler in München eröffnet wurde.

Die Ausstellung, die die ganze Bewegung der Moderne der deutschen Malerei, Graphik, Bildhauerei und Architektur der Lächerlichkeit preiszugeben suchte, zeigte nicht weniger als 7630 Kunstwerke. Nicht alle haben für uns noch Bedeutung. Aber es waren auch Werke darunter, die heute – und bereits in der Zeit vor der Machtergreifung 1933 – als wunderbarer, unsterblicher Ausdruck des menschlichen Genies gelten. Zu lang ist die Liste der unfreiwilligen „Aussteller“, unter ihnen waren Paul Klee, Otto Dix, Ernst Barlach, Max Beckmann, Emil Nolde, Oskar Schlemmer, Lyonel Feininger, Käthe Kollwitz, George Grosz, Ernst Ludwig Kirchner und Willi Baumeister.

„Entartete Kunst“ siegte schnell, und dieser Sieg währte lange. Nicht weniger als zwei Millionen Menschen besuchten die Ausstellung von Juli bis November 1937. Die meisten waren Deutsche, aber auch viele Ausländer kamen zu diesem Anlass nach München. Hitler selbst machte einen Rundgang, in Begleitung von Goebbels und der Parteibonzen der Reichskammer der Bildenden Künste, der nationalsozialistischen Künstlergilde. Nach München ging die Ausstellung auf Wanderschaft, nach Berlin, Hamburg, Leipzig etc.

Es gibt da diese milde Lüge, der zufolge der gewaltige Zulauf von Besuchern, die die „Entartete Kunst“ sehen wollten, den heimlichen Fans zu verdanken gewesen sei, den Bewunderern des Expressionismus, des Nach-Expressionismus und des Bauhauses, die nur gekommen seien, um die Werke der von ihnen so geliebten und so tief empfundenen modernen Kunst ein letztes Mal zu sehen. Was für ein Blödsinn! In diesen Besuchermassen gab es sicher einige wenige, die so dachten. Der Fall des Sammlers Bernhard Sprengel ist überliefert, der sich angesichts dessen, was er hier sah, zur modernen Kunst bekehrte. Aber die gewaltige Mehrheit hatte die von den Nazis erhofften Motive. Sie glaubte, dass moderne Kunst verrückt und krank sei, und besuchte die Ausstellung wie eine riesige Freak-Show. Ein deprimierter Besucher schrieb damals: „Das propagandistische Ziel, der echten deutschen Kunst den Todesstoß zu versetzen, (ist) damals in weitem Umfange erreicht worden.“

Die Ausstellung wurde bemerkenswert gut präsentiert. Auch bei uns, wo seit der Ära Thatcher die Kunstgalerien mit ungewohnten Konzepten, wie Sponsorship, Marketing oder Zielpublikum, zu kämpfen haben, würde sich „Entartete Kunst“ problemlos behaupten. Der Sponsor der Ausstellung war nicht unmittelbar der Staat oder der Steuerzahler, sondern die Partei, die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. In den Städten, in welchen die Ausstellung gezeigt wurde, übernahmen die örtlichen Parteiorganisationen die Schirmherrschaft, was der Ausstellung einen unechten Anschein von Spontaneität verlieh. Sehr geschickt wurde das Marketing für das Zielpublikum eingesetzt. Niemand musste mit einem Ferienaufenthalt in Dachau bedroht werden. Stattdessen gab es einen massenhaften Vorverkauf zu reduzierten Eintrittspreisen und gewaltige Publicity. Darüber hinaus wurde die Ausstellung als Beigabe zu einem weiteren spektakulären Ereignis „verkauft“: denn einen Tag nach ihrem Beginn eröffnete Adolf Hitler im nahe gelegenen „Haus der Deutschen Kunst“ die „Große Deutsche Kunstausstellung“.

Das Publikum war nicht schwer zu finden. Die Ausstellung zielte nicht auf die überzeugten, ideologisch gefestigten Parteimitglieder, sondern auf die Abermillionen einfältiger, rassistischer, halbgebildeter Volksgenossen, die glaubten, dass jüdische Warenhäuser, Negerjazzbands, russische Atheisten und sich in der Öffentlichkeit zeigende Perverse Schuld hätten an ihren Existenzproblemen. Und es wurde ein Volltreffer! Mit seinem Hinweis, dass der Mensch nicht aus Würfeln und Dreiecken zusammengesetzt sei, sprach Adolf Hitler jedem aus dem Herzen, der bis dahin vor Wut auf die moderne Kunst insgeheim gekocht hatte und sich zum Clown gemacht sah:

„dass es wirklich Männer gibt, die die heutigen Gestalten unseres Volkes nur als verkommene Kretins sehen, die grundsätzlich Wiesen blau, Himmel grün, Wolken schwefelgelb usw. empfinden oder, wie sie vielleicht sagen, erleben. Ich will mich nicht in einen Streit darüber einlassen, ob diese Betreffenden das nun wirklich so sehen und empfinden oder nicht, sondern ich möchte im Namen des deutschen Volkes es nur verbieten, daß so bedauerliche Unglückliche, die ersichtlich an Sehstörungen leiden, die Ergebnisse ihrer Fehlbetrachtung der Mitwelt mit Gewalt als Wirklichkeiten aufzuschwätzen versuchen oder ihr gar als ‚Kunst’ vorsetzen wollen.“1

Die Präsentation der Ausstellung war, wie man heute sagen würde, „exemplarisch“. Der Kulturhistoriker Hermann Glaser hat auf den beabsichtigten Kontrast zwischen der neuen, „reinen“ Kunst im vermeintlich schönen, neuen „Haus der Deutschen Kunst“ und der „hässlichen“ Kunst, die man in die veraltete Galerie am Königsplatz gequetscht hatte, hingewiesen. „Gequetscht“ ist das passende Wort. Die Wände und Räume waren mit den Bildern und Skulpturen vollgestopft, manches stand am Boden herum, als wäre es gerade ausgepackt worden. Dies entsprach ganz der Absicht, einen Eindruck von Chaos, Beengung und Krankhaftigkeit zu erzeugen und in dem Besucher den Wunsch zu wecken, die Fenster zu öffnen. Wo freie Flächen gelassen waren, erläuterten ausführliche didaktische Texte in der Terminologie des Nationalsozialismus den Krankheitscharakter der Ausstellungsstücke. Und neben jedem Bild war fein säuberlich und hinterhältig ein Etikett angebracht, auf dem sein zuletzt verlangter Preis vermerkt war. Schicke Spekulanten, so wurde suggeriert, bezahlten das Jahresgehalt eines Arbeiters für diesen Schund.

Die Ausstellung hatte verschiedene Abteilungen: „Verhöhnung der deutschen Frau“, „Beschimpfung der deutschen Helden des Weltkrieges“ usw.

Professor Adolf Ziegler, der Präsident der Reichskammer der Bildenden Künste, erzählte den Besuchern: „Sie sehen um uns herum diese Ausgeburten des Wahnsinns, der Frechheit, des Nichtskönnertums und der Entartung.“ Seine eigenen, schwergewichtigen weiblichen Akte im realistischen Stil befanden sich in der anderen, der „guten“ Ausstellung. Nicht zufällig nannte man ihn den „Meister des deutschen Schamhaars“. Immerhin zögerte man nicht, diese „Ausgeburten“ zu verkaufen. Als die Schau 1939 endlich geschlossen wurde, wurde viele Werke von der deutschen Regierung in der Schweiz verkauft, was zu einem in der Kunstgeschichte bis dahin selten gesehenen Ansturm der Kunsthändler führte. Doch eine ungeheure Menge von Bildern und Zeichnungen blieb übrig und wurde, nach Mitteilung der Behörden, von der Berliner Feuerwehr verbrannt, als Brandübung. Das war zwar eine Lüge, aber so sollte es die Welt glauben.

Hitler schmeichelte der öffentlichen Meinung. Die einfachen Leute wissen, was sie nicht mögen, so suggerierte er ihnen, und er hatte recht. „Denn der Künstler schafft nicht für den Künstler, sondern er schafft genauso wie alle anderen für das Volk. Und wir werden dafür Sorge tragen, dass gerade das Volk von jetzt ab wieder zum Richter über seine Kunst angerufen wird.“2 Auch der Stalinismus erklärte den heroischen Realismus zum „korrekten“ Stil und behauptete, dass das Volk es so wolle. Allerdings hatte das Volk (bzw. die arbeitenden proletarischen Massen) in der Sowjetunion und, nach 1945, in Osteuropa nie die Möglichkeit, zu sagen, was es wirklich dachte.

In Nazideutschland war das anders. Hitler nahm häufig auf die authentische öffentliche Meinung Bezug, er steuerte sie in seinem Sinne, aber ausgehend von den tatsächlich vorhandenen Einstellungen. Deshalb war ja die Wirkung der „Entarteten Kunst“ so grauenhaft und lang anhaltend. Sie zeigte, wie groß damals die Ressentiments und die Furcht der Durchschnittsbürger vor der modernen Kunst waren. Und im Spiegel der westlichen Zeitungen und Zeitschriften zeigte sie auch, wie viele Intellektuelle und Kritiker die modernen Kunstbewegungen und ihre Folgen verabscheuten.

Der Katalog der „Entarteten Kunst“ stellte die Abbildungen der Gemälde neben Arbeiten von Geisteskranken. In anderen Fällen waren expressionistische Darstellungen des menschlichen Körpers kombiniert mit Fotos von Patienten mit schweren körperlichen Missbildungen. Zunehmend assoziierte man die künstlerisch verzerrte Darstellung mit Symptomen körperlicher Gebrechen (ein außerordentlich sinnloser Vergleich). Auch das sollten sich die Stalinisten für sich übernehmen, Realismus war gesund und fortschrittlich, darauf legten sie Wert, während sie Abstraktion und nicht-figurative Kunst für einen Hautausschlag der bürgerlichen Dekadenz hielten.

Aber etwas muss gesagt werden: erst rückblickend lässt sich behaupten, dass totalitäre politische Systeme für ihre millenarischen Zwecke zwangsläufig für Realismus und Gegenständlichkeit optieren. Das Vorspiel zur „Entarteten Kunst“ zeigt dies ganz deutlich. Hitlers Entschluss, diesen Weg zu gehen, kam erst nach langem Zögern und fortgesetzten erbitterten Streitereien in der Nazi-Bewegung zustande. Es trifft zu, dass der gescheiterte Wiener Kunststudent einen konservativen Geschmack hatte und die Kunst des Expressionismus immer mit Illoyalität und anti-nationaler Einstellung, vor allem aber mit dem Bolschewismus, assoziierte. Der um Leute wie Strasser gruppierte revolutionäre Flügel der Partei vertrat jedoch, zumindest bis zu den Säuberungen von 1934, eine andere Meinung.

Es ist ein ziemlich unerhörter Gedanke, eben dieser Expressionismus hätte die offizielle Kunst der Nazis werden können. Natürlich waren nicht alle seine Anhänger, von der „Brücke“ bis zum „Bauhaus“, Männer und Frauen der Linken. Emil Nolde zum Beispiel. Er war ein Parteimitglied der ersten Stunde (seit 1920). Als er in Ungnade fiel, wusste er nicht, wie ihm geschah. Aber das ist nicht der Punkt. Was wir jedoch leicht vergessen, ist die fundamentale, leidenschaftliche Abwehr, mit der die deutschen Intellektuellen noch vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs auf den frühen Expressionismus reagierten. Nach 1914 etablierte sich der Expressionismus halbwegs und wurde, wie ein deutscher Kritiker formulierte, „als die natürliche Sprache des deutschen Geistes angenommen“.

Als Hitler 1933 Reichskanzler wurde, schien es deshalb für viele Kunsthändler, Museumsdirektoren und Kuratoren naheliegend, dass der Expressionismus zum deutschen Nationalstil erklärt werden würde. Göring war nur einer von mehreren Nazi-Führern, die diese Werke kauften – er mochte Nolde. Und die Intellektuellen und Sympathisanten waren insofern beruhigt, als der Futurismus in Italien zur Kunst der nationalen Wiedergeburt befördert worden war. Diese Tendenz wurde von der gemischten Gruppe um die Zeitschrift „Kunst der Nation“ vertreten, vor allem von Andreas Schreiber, der 1933 schrieb, dass „die Künstler der ‚Brücke’ Förderer der nationalen Revolution in Deutschland (seien)“. Auf der anderen Seite standen die Nazi-Ideologen, die biologischen Krieger. 1927 hatte Alfred Rosenberg den „Kampfbund für Deutsche Kultur“ mitgegründet. Der grässliche Paul Schultze-Naumburg gehörte dazu, der es sich später zum Vergnügen machte, Schlemmers Wandmalereien im Weimarer Bauhaus persönlich zu übermalen. Der „Kampfbund“ trat strikt für die Verknüpfung nicht-realistischer Kunst mit körperlicher und geistiger Krankheit ein, und er war es, der zum ersten Mal expressionistische Darstellungen des menschlichen Körpers neben Fotos von Missbildungen zeigte. Der Kampf zwischen der „Kunst der Nation“ und dem „Kampfbund“ um den zukünftigen offiziellen Kunststil verschärfte sich, als Nolde um Aufnahme in den „Kampfbund“ nachsuchte und zu seiner eigenen Überraschung abgewiesen wurde.

Der Kampf war noch im Gange, als 1934 die Italiener eine größere futuristische Ausstellung nach Berlin schickten. Von Adolf Hitler selbst kam eine bemerkenswerte Reaktion. Er verdammte beide Seiten. Er attackierte die traditionsfeindlichen Kunstverderber, die er als nicht zur arischen Rasse und zur deutschen Nation gehörig bezeichnete. Und er wütete gegen die anderen, die er als rückwärtsgerichtete Spinner abtat, die in der verworrenen Welt ihrer Hirngespinste einen altdeutschen Kunststil erfinden wollten.

Was ging hier vor? Man weiß nichts Genaues. Bis zu einem gewissen Punkt frönte Hitler seinem Lieblingssport als Zuschauer: rivalisierenden Gruppen innerhalb der Nazi-Bewegung beim Kampf auf Leben und Tod zuzusehen – eine Übertragung der Darwinschen Prinzipien vom Kampf um Dasein und vom Recht des Stärkeren auf die Institutionen der Gesellschaft. 1936 wurde er dieses Kampfes müde, wohl in der Folge der endgültigen Ausschaltung des Strasserschen Flügels und anderer sogenannter revolutionärer Elemente der Bewegung. Er zog einen Schlussstrich, als er, zusammen mit Goebbels, Adolf Ziegler – den mit dem „Schamhaar“ – beauftragte, eine Sammlung entarteter Kunst mit dem Ziel einer Ausstellung aufzubauen. In Zentrum der Ausstellung sollten die expressionistische und post-expressionistische Kunst stehen. Gleichzeitig fiel die Entscheidung für den heroischen, ultra-naturalistischen Stil. So begann der triumphale Aufstieg von Bildhauern wie Arno Breker (der ein angesehener Künstler in der Tradition Maillols gewesen war) und Malern wie Hubert Lanziger, der das berühmte Bild von Hitler als Jeanne d'Arc zu Pferd gemalt hat).

All dies hatte nachhaltig vergiftende Wirkung und beschädigte die Kultur in zweifacher Hinsicht. Nach Hitlers Sturz 1945 wurde dies in ganzem Umfang offenbar, als sich die Künstler von allen Maßstäben, die von den totalitären Systemen gesetzt worden waren, fluchtartig distanzierten. Als erste gerieten all jene Ideen in Misskredit, die eine sinnvolle Verbindung zwischen künstlerischen Maßstäben und öffentlicher Meinung herzustellen suchten. Von da, so unterstellte man nun, ginge es direkt in die Barbarei. Man vergaß, wie natürlich es noch ein Jahrhundert zuvor Dichtern, Musikern und Malern erschienen war, die Nähe des Volkes zu suchen, um Inspiration zu finden. Und beschädigt wurde auch das Verhältnis zwischen den bildenden Künstlern und der Welt, die sie um sich herum wahrnahmen.

(.) Zu dieser Auffassung trug Nietzsche die Dimension des vornehmen Herrenmenschentums des heroischen Individuums bei. Deutsche Innerlichkeit und „Innere Emigration“ werden als zwei Aspekte derselben Flucht aus dem Leben in höhere, tiefere Bereiche des Spirituellen erkennbar.

Wir wollen jetzt „was wäre gewesen, wenn“ spielen. Nehmen wir an, Hitler hätte sich anders entschieden, und die Kunst der Moderne einschließlich Klee wäre die offizielle Kunst des Tausendjährigen Reiches geworden! Als erste ganz offensichtliche Folge wären sehr viel weniger Maler und Bildhauer emigriert. (Verglichen mit den Flüchtlingen, die zur literarischen und wissenschaftlichen Intelligenz zählten, war ihre Zahl tatsächlich nicht sehr groß: Otto Dix, Emil Nolde, Willi Baumeister und Oskar Schlemmer tauchten in Deutschland unter und überlebten. Vielleicht hat das damit zu tun, dass Künstler stark verwurzelt sind. Vielleicht aber auch mit der erstaunlich kleinen Zahl zeitgenössischer deutscher Maler jüdischer Herkunft.) Und der Westen, vor allem die Vereinigten Staaten, hätten nicht all diese Künstler und Lehrer aufgenommen, die einige Jahre später die Explosion des Abstrakten Expressionismus auslösten. In weiterer Folge wäre die abstrakte Malerei vielleicht als interessante Marginalie am Rande abgetan worden. Ihre Identifizierung mit politischer Freiheit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, die tatsächlich etwas zufällig kam, wäre ganz sicher nicht möglich gewesen.

Die wichtigste Konsequenz aber wäre gewesen, dass die gesamte Bewegung der modernen Kunst in der „demokratischen“ Welt unterminiert worden wäre. Die „moderne Kunst“ wäre mit dem deutschen ebenso wie mit dem italienischen Faschismus identifiziert worden. Trotz des Überlebens einer Avantgarde in Deutschland, die der Übernahme durch die Nazis widerstanden hätte, wären viele Intellektuelle in Frankreich, England und den USA möglicherweise zu der Auffassung gekommen, dass eine Kunst, die die liberale Wahrnehmung „verzerrte“, gefährlich und in gewisser Weise anti-human sei, während das Heil nur im strengen Realismus zu finden sei. Einige Leute von der Linken hätten dann vielleicht auf die Sowjetkunst und ihren „heroischen Naturalismus“ als den wahren Erben der europäischen Tradition verwiesen. Andere hätten Einwände gegen die kommunistische Propaganda als Wesenselement des sozialistischen Realismus gehabt, aber niemandem wäre die heute so schnell hergestellte Gleichsetzung von Sowjet- und Nazikunst eingefallen. Es hätte nur einen „totalitären Stil“ gegeben: die Kunst der Moderne.

Es ist nicht schwer, weitere denkbare Folgen vorauszusehen, vor allem auch für die Zeit, als der Krieg näherrückte und auch der Westen begann, propagandistische Maßnahmen für seine Zivilbevölkerungen zu planen. Wir brauchen nur nach München im Jahr 1937 zu schauen. Die Pointe ist ebenso einfach wie gemein. Wenn die Nazis die Kunst der Moderne übernommen hätten, dann hätte etwas Ähnliches wie die „Entartete Kunst“-Ausstellung eben bei uns stattgefunden. Vielleicht als gewaltige Verhöhnung der „Deutschen Kunst“, weniger kulturkritisch, stärker anti-national getönt, den Propagandabedürfnissen in Kriegszeiten entsprechend. Hass und Unverständnis wären gegen diese Kunst, die in England und Amerika genauso wie in Deutschland für Aufregung sorgte, mobilisiert und unwiderruflich im demokratischen Programm gespeichert worden. Sogar 1937 zeigten sich einige Kritiker, die keinesfalls pro-nazistisch eingestellt waren, von der Ausstellung beeindruckt. Raymond Mortimer schrieb im „New Statesman“, dass Hitler wenigstens in diesem einen Falle etwas geleistet habe: „Das Beste, was wir bisher von diesem Herrn gehört haben.“ Die philisterhaftesten und reaktionärsten Abgründe des britischen Geschmacks hätten sich für die Sache des Krieges aufgetan. Nach Hitlers Niederlage hätte man nicht nur an den Nazis als politischer Bewegung Rache genommen, sondern auch an all diesen „Ausgeburten“ ihrer „entarteten“ Phantasie.

Die Geschichte – die, die tatsächlich stattgefunden hat – hat vom Werk der Generation der „Neuen Sachlichkeit“ einen hohen Tribut gefordert. Mehrere der bedeutendsten Gemälde Otto Dix' gingen während der Nazi-Zeit verloren (vielleicht taucht bald, wo doch heute so viel wiederentdeckt wird, eines seiner Meisterwerke in irgendeinem Schuppen in Brandenburg wieder auf). Aber hätte man den jungen britischen und amerikanischen Soldaten 1945 beigebracht, dass die Kunst der Moderne die Kunst des Bösen sei, dann wäre wohl beinahe so gut wie alles vernichtet worden. Die Entscheidung der Nazis, der Bewegung der Moderne den Krieg zu erklären, brachte eine Katastrophe. Aber eine Heiligsprechung wäre letztendlich noch weit schlimmer gewesen. 

Neal Ascherson


Anmerkungen

1 Entartete Kunst. Ausstellungsführer, München 1937, S. 28f.
2 Günter Busch, Entartete Kunst. Geschichte und Moral, Frankfurt 1969, S. 22.

Aus: Random Access. On Crisis and
its Metaphors. Edited by Pavel Büchler
and Nikos Papastergiadis,
Rivers Oram Press, London 1995.

Übersetzung: Johannes Schlebrügge.

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