TransAct 65

TransAct Statement

Probleme mit den Kindern? Jugendamt regelt! Probleme mit der Arbeit? Arbeitsamt regelt! Probleme mit den Nachbarn? Polizei regelt! Die Erwartungen seien hoch an den Staat, hier in Österreich, meinte ein türkischer Sozialarbeiter, der seit vielen Jahren in Wien mit Jugendlichen arbeitet. Im Gegensatz dazu würde sich die Bevölkerung der Türkei einfach nichts von der Obrigkeit erwarten. Sie sei es traditionsgemäß gewohnt, von ihr nichts zu bekommen und nichts zu erwarten – außer Steuerbelastungen, militärische Sondergesetze oder die Rekrutierung der jungen Männer im Dienst einer Staatsmacht, deren Interessen mit jenen der Bevölkerung nichts gemein haben. Wenn sie nicht sogar unmittelbar gegen sie gerichtet sind. Gegen die Kurden zum Beispiel. Zum Beweis dafür führt N.N. an, dass selbst in den Jahren eines auch vor der Bevölkerung nicht einhaltenden PKK-Terrors keine kollektiven Aggressionen gegen die Kurden aufbrachen.

Österreich: Ich kenne kein Land, in dem so viel von einem Staat erwartet wird und mit dem man sich zugleich so wenig identifiziert. Mehr noch: dieser Staat wird geradezu als feindlich eingeschätzt. Er gibt: Das ist doch seine Pflicht! Er nimmt: Und es wird als unabwendbarer Übergriff empfunden. Anders etwa als in Italien (wo etwa die Schattenwirtschaft weit größere Ausmaße hat als hierzulande), haut man den Staat nicht übers Ohr („schlitzohrig“ sozusagen), sondern man betrügt ihn im Bewusstsein auf ein natürliches Recht, Widerstand gegen die eben feindlich gesonnene staatliche Übermacht zu leisten. Steuern, insbesondere Erbschaftssteuern zum Beispiel: das erntet Erbitterung und Zähneknirschen. Den Staat zu übervorteilen, ist nicht ein quasi sportliches Spiel (wer ist schlauer oder gerissener), sondern eine Gegenwehr des Schwachen, also des im Grunde genommen Unterlegenen. Nur wenige denken daran, daß es die Gesamtheit der Staatsbürger ist, die den Staat ausmachen. Das liegt nicht bloß am Bewusstsein der Leute, sondern auch an der Staatspolitik. Nutznießer und Oppositionelle zugleich: die traditionelle Doppelrolle in einem tragikomischen Stück, in dem der Vorhang noch lange nicht gefallen ist.

Paradox nimmt sich dagegen der österreichische Nationalismus aus. Er ist weniger virulent als jener im zerfallenen Jugoslawien etwa, aber er ist ebenso deplaziert und ebenso unzeitgemäß, wenngleich nicht ganz so neu in seiner akuten Gefährlichkeit. Was die österreichische Spielart der Fremdenfeindlichkeit (bei gleichzeitiger überproportionaler Spendenfreigiebigkeit!), was diese Xenophobie also nährt, scheint auf tiefsitzenden Kränkungen zu beruhen. Und spätestens hier kommt man ohne die Geschichte nicht aus.

Da ist das zusammengeschmolzene Weltreich der Habsburger, das 1918 auf einen vergleichsweise lächerlichen Reststaat zusammengestutzt wurde; und da ist das Wiener Telefonbuch, das nach wie vor Zeugnis davon ablegt, daß vermutlich die große Mehrheit aus Zuwanderern der ersten, zweiten und dritten Generation besteht. Daß Immigranten keineswegs immer den Nachkommenden gegenüber freundlich gesinnt sind (selbst Familienangehörigen gegenüber), zeigen Berichte über Kurden in England oder auch Erfahrungen mit Flüchtlingen aus der DDR vor dem Fall der Mauer. Aber nirgendwo scheint sich die Ablehnung gegenüber neuen Immigranten (selbst aus dem nämlichen ethnisch kulturellen Kontext!) so hartnäckig zu halten wie in den Wiener Gemeindebauten. Gebaut wurden sie nicht zuletzt wegen des massiven Zuzugs aus dem Raum der zerfallenen Donaumonarchie. Dass Integration nicht unwesentlich über Anpassung verläuft, gilt nicht nur für Österreich. Aber nirgendwo zwingt Anpassung so sehr zur gänzlichen Aufgabe des Eigenen. Wobei auch noch die Frage entscheidend ist, woran man sich anzupassen hat: an eine zivile Gesellschaft oder an eine Untertanenmentalität. Hierzulande muss man für den Verzicht auf die Eigenart auch noch dankbar sein.

Anpassung als Grundbedingung österreichischer Identität also, die als nationale und nicht modern staatliche empfunden wird. Anpassung bis zur Unkenntlichkeit des Fremden. So erklären sich auch die Waldheims und Westentalers. Odilo Globocnik (Gauleiter von Kärnten und später Erfüllungsgehilfe Kaltenbrunners) dachte vermutlich noch nicht einmal daran, seinen Namen zu wechseln.

Der österreichische Nationalismus ist ein Phänomen der 2. Republik. Jean Améry hat es mit Erstaunen vermerkt, dass nach dem 2. Weltkrieg zwar neben der politischen Bedeutung nun auch die intellektuelle Potenz dieses Landes gesunken war, dennoch sich aber – an der Stelle des Staates, „den keiner wollte“ – in überraschend kurzer Zeit das „Bekenntnis zu Österreich“ in ein klares österreichisches Selbstverständnis gewandelt hatte. Als ein Beweis galt ihm ein Gespräch mit Ernst Jandl, der sich auf Amérys Frage als österreichischer Autor bezeichnete. Nicht als deutscher! Heute mag das selbstverständlich erscheinen (ebenso wie die Empörung des Außenamts, wenn die Goethe-Institute im Ausland ohne Unterschied Kafka, Musil oder Broch neben Goethe, Fontane oder Böll als deutsche Autoren präsentieren). Aber vergessen wird dabei, dass selbst ein Renner noch nach dem 2. Weltkrieg für sich daran festhielt, dass Österreich eigentlich ein Teil eines größeren Deutschland hätte werden sollen. Aus bekannten politischen Gründen war das nicht mehr möglich. Aber diese Gründe waren rational und opportunistisch. Niemals hätte Österreich sich als erstes Opfer des Nationalsozialismus üben und in dieser Unschuld eine derartige Perfektion erlangen können.

Alles das ist hinlänglich bekannt. Worauf es ankommt, ist der Gegensatz zwischen dem Verhältnis zum Staat und zum österreichischen Selbstverständnis. Rational wäre es gewesen, den Staat als Summe der Staatsbürger zu erkennen und das Nationale hinter sich zu lassen. Aber es verhält sich genau umgekehrt. Das Österreichertum ist eines des Sentiments und des Ressentiments.

Es ist richtig: neueste Studien etwa haben ergeben, dass die Fremdenfeindlichkeit in Ungarn oder Tschechien noch weit höher ist als in Österreich; Deutschland oder Belgien haben einen weit extremeren rechten Rand; die Minderheiten werden vom französischen Staat weniger geschützt als hierzulande; Italien hat die Mafia und eine starke Rechte; Spanien den ETA-militar-Terrorismus und eine Rechte, die sich unter der derzeitigen Regierung bedeckt halten kann; u.s.f. Sind wir nicht vergleichsweise gut? Und diese EU hat gegen uns Sanktionen verhängt? Genau hier liegt das Ressentiment, das sich der Rationalität nicht beugt und zugleich politisch – und das ist noch gefährlicher daran – funktionalisiert wird.

Man sollte meinen, in diesen post-postmodernen Zeiten des Pragmatismus, gewöhnt an eben den Pragmatismus neoliberaler Globalisierung, sei es nachgerade eine Banalität, dass autonome nationale Politik und erst recht Nationalökonomie überholt sind. Aber gerade die (in jeder Weise) Schimäre einer österreichischen Nation dient zum Anheizen des Ressentiments auf höchster politischer Ebene, und das ist es, was von den anderen EU-Mitgliedstaaten nicht geduldet werden kann. Die Sanktionen wurden nicht gegen die österreichischen Staatsbürger verhängt, sondern gegen eine Regierung, die (zumindest zum Teil) dieses Ressentiment instrumentalisiert hat. Die Verantwortung für die Sanktionen wurde als ungerechtfertigte Schuldzuweisung und Strafe auf die Gesamtheit einer Gesellschaft überwälzt, die sich in ihrer nationalen Ehre verletzt gesehen hat. Der mögliche und zum Teil bestehende Zorn auf die Regierung wurde damit auf jene Staaten zurückgewendet, die die Sanktionen verhängt hatten. So erst ist die Erregung jener zu begreifen, die von den Sanktionen nie etwas zu spüren bekommen haben.

Über das nationale Ressentiment stellt sich eine Allianz zwischen Regierung und Gesellschaft her: das Spiel der Funktionalisierungen.

Es ist bezeichnend, wie sehr in diesem Land Funktion und Bedeutung miteinander verwechselt werden. Personen werden zu wichtigen Persönlichkeiten, um nach Beendigung ihrer Funktion wieder in ihrer privaten Bedeutungslosigkeit zu versinken. Hier gilt die Person nichts, wenn sie nicht Repräsentant ist. Und als Repräsentant hat sie zwei Gesichter, die mit der realen Person zumeist wenig zu tun haben: Das eine Gesicht heißt Obrigkeit, das andere nationale Integrationsfigur. Wer auf dem Klavier des nationalen Ressentiments zu spielen versteht, der kann sogar das Gegenteil dessen, was er sagt, pragmatisch durchziehen, ohne auf ernsthaften Widerstand zu stoßen. Das verweist nicht auf fehlenden Realitätssinn der Österreicher, sondern auf eine Mentalität, die seit weit mehr als 200 Jahren mit dem Grundsatz trainiert wurde: Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk. Franz Joseph kann immer noch als Integrationsfigur herhalten, obwohl das Gegenteil der Fall war und es heute als erwiesen gelten kann, dass es nicht nur ein Jammer ist, daß er so lange regiert hat, sondern, dass er überhaupt an die Regierung kam. Nach Hegel ist auch Glaube Realität, wenn nur eine genügend große Zahl glaubt. In Österreich also fehlt es nicht an Realitätssinn, sondern an jener zivilen Rationalität, die allein in der Lage ist, Obrigkeit auf den Teppich der Verfassung zu bringen und sie zu dem zu machen, woraus sie sich zusammensetzt: aus Funktionsträgern, die durch demokratisches Votum ermächtigt sind, im Dienst und zum Nutzen der Gesamtgesellschaft verantwortlich zu handeln und Verantwortung zu tragen. Diese Rationalität ist nicht opportun. Umso mehr blüht der rationale Opportunismus. Longue durée. Von Metternich bis heute. Dieser Opportunismus ist sogar extrem realitätsbezogen. Viel mehr, als der deutsche Idealismus es war.

Hier wird mit der Realität die Vernunft überlistet. Im besten Fall kann daraus auch Kunst werden. Wenn sie es versteht, diesen Mechanismus durchsichtig zu machen. Spielerisch. Nicht klassisch. Nicht zuletzt ist das ein Grund, weshalb es keine österreichische Literarturklassik gibt. Und selbst in den „Klassikern“ der österreichischen Architektur ist – obwohl oft missverstanden – dieser Grundzug ausfindig zu machen. Darauf hat Friedrich Achleitner wiederholt und unter Berufung auf Hans Sedlmayr hingewiesen.

Es ist klar, dass die österreichische Kultur von all den genannten Bedingungen wesentlich geprägt ist. Und nicht zufällig haben sich die wahren Skandale dieses Landes – also jene, die die Gemüter erhitzen – an der Kunst entzündet. Von Adolf Loos oder Oskar Kokoschka bis zu Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek. In einem hohen Maß – und man kann wohl sagen: in einem signifikant höheren Maß als in anderen Ländern – entsteht hierzulande künstlerisch Neues aus Subversion. Der beschriebene Realitätssinn wird einer kritischen Reflexion unterzogen, und solcherart tritt – basierend auf konkreter Realitätsnähe ganz anderer Art – der hintergründige Witz in die Fußstapfen dessen, was (in je spezifischer Form) in Italien lange zuvor schon die Commedia dell Arte oder in Spanien der pikareske Roman war. Ein Sadomasochismus, der sich in satirischer Art Luft und Raum zum Atmen schafft. Der blitzende Witz in der Schwärze. Dafür gibt es unzählige Beispiele: von Nestroy über Karl Kraus oder Anton Kuh bis zu – in der Gegenwart – Franz West, Cornelius Kolig oder (in jeweils verschiedener Art) H. C. Artmann und die Wiener Gruppe, Ernst Jandl, Bodo Hell, Franz Schuh, Antonio Fian oder Josef Hader. Hintergründige Präzision, analytische Rationalität am Detail. Zumeist mit Mitteln der Sprache. Das ist kein Boden für klassische Werte, aber für Rationalität. Trotzdem: Vertriebene Vernunft hieß ein hochkarätiges Symposion vor Jahren. Vertrieben wurde nicht nur Sigmund Freud, sondern auch der Wiener Kreis. Während der österreichische Empiriokritizismus so manches Licht in der Welt aufgesteckt hat, ist es hier vergleichsweise dunkel geblieben. Die Vertreibung, die Austreibung, sie gehen weiter. Auch eine Geschichte der Kränkungen.

Dieses Land hat eine Kultur der Gekränkten. Zu wenige versuchen diesen Kränkungen rational, produktiv und innovativ zu begegnen, zu viele sie mit Ressentiments zu beantworten. Noch immer? Eine Generationsfrage angesichts eines internationalen Mainstreamings? Die österreichischen Tatsachen sprechen dagegen. Unsere rechtspopulistische Partei vermag bei Wahlen immer noch, die meisten Stimmen der jungen WählerInnen zu binden. Trotzdem, hoffen kann man ja. Der damit verbundene Preis des Verlusts spezifisch österreichischer Kunst- und Kulturresistance wäre zwar hoch, aber nicht zu hoch.

Schließlich: Geschichte ist immer gemacht worden. Nicht nur von Politikern, der Ökonomie und den Medien. Ausnahmslos in ihrer Unumkehrbarkeit ist sie mit der Natur-Geschichte vergleichbar. Einfach SO ist es niemals.

Martin Adel
Publizist, ständiger freier Mitarbeiter 
des ORF/Hörfunk/Wissenschaft,
Univ. Lektor an in- und ausländischen Universitäten

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