Travelling Eye

Massenhaft verfügbare Information

Über künstlerische Intervention in Massenmedien am Beispiel von „Travelling Eye“

Künstlerische Intervention in Massenmedien hat bereits eine Tradition, die in der Concept-art begründet wurde. Für die Fotografie sind das immer wieder zitierte Beispiel dafür die „Falschen Fotos“ des amerikanischen Happening-Künstlers Allan Kaprow, 1981 in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“, doch beschäftigte sich bereits Mitte der sechziger Jahre der ebenfalls amerikanische Konzeptkünstler Dan Graham mit einer Kunst, „die sich nicht in einer Galerie oder einem Museum ausstellen ließe“, mit „etwas Gedrucktem, das massenhaft reproduziert wird und massenhaft verfügbare Information vermittelt“. Auch Graham hatte dabei vor allem die Fotografie im Sinn, und meinte ausdrücklich nicht die Abbildung von Kunstwerken aus Ateliers, Ausstellungen oder Sammlungen in Zeitungen oder Zeitschriften, sondern die Produktion von Fotokunst speziell für Medien. Die Zeitungen und Zeitschriften sollten eben nicht als Vermittler einer für den Galerien- oder Museumskontext produzierten Kunst fungieren, wie in der üblichen Kulturberichterstattung oder Kunstkritik, sondern sie sollten selbst zum Rahmen, zur Wand oder zum Raum von Kunst werden, so daß umgekehrt die Kunst hier – Zitat Graham – „als Teil jenes kulturellen Gesamtrahmens, dem auch die Zeitschrift angehört“, wirksam wird. Aus Grahams Forderung liest sich deutlich die Botschaft jener Zeit, die die Kunst aus den Museen befreien und sie der sozialen Wirklichkeit aussetzen wollte, damit aber letztlich scheiterte. Graham selbst erlebte das mehrmals. Eine geplante Foto-Serie von amerikanischen Vorstadthäusern für die Zeitschrift „Esquire“ kam nicht zustande, und auch die Kunstzeitschrift „Arts Magazine“ verstümmelte die Arbeit, indem sie einen begleitenden Text in den Mittelpunkt rückte und einen Teil der Fotos strich. Auch das Happening der „Falschen Fotos“ in der „Zeit“ funktionierte nur als einmalige überrumpelungsaktion. In der Folge hatte die Redaktion alle Hände voll zu tun, um ihre Seriosität wiederherzustellen. Ein sehr komplexes Konzept stand hinter einer Aktion des Künstlers Ernst Caramelle, 1984, in den österreichischen Zeitungen und Magazinen „Kronen-Zeitung“, „Kurier“, „Falter“, „profil“ und „Wiener“. In allen Produkten erschienen ähnliche Fotos einer New Yorker Straßenkreuzung mit ganz unterschiedlichen Bildlegenden, die sehr unterschiedliche Interpretationen des Dargestellten suggerierten. Auch diese Intervention funktionierte nur, weil sie einmalig war, im Kontext der Kulturspalten stattfand und als Beitrag zum österreichischen Kunsttag lief, der unter dem Motto „Kunst und Massenmedien“ stand. Zudem blieb die Aktion unvollständig, da ein sechstes Medium, die Zeitschrift „Basta“, vergaß, ihr Foto ins Blatt zu rücken.

Die Fotoserie „Travelling Eye“ im österreichischen Wochenmagazin „profil“ – bei der in 48 Folgen 12 Künstler je 4 Fotos für eine Doppelseite konzipierten – unterscheidet sich in einem sehr wesentlichen Punkt von den genannten Beispielen fotokünstlerischer Intervention in Printmedien. Dieser Punkt betrifft das Konzept der Intervention. Dieses besorgte das „museum in progress“, eine Non-profit-Initative Kathrin Messners und Josef Ortners in Wien, die seit fünf Jahren damit beschäftigt ist, Kunst im öffentlichen Medienraum zu plazieren: auf Plakaten, Projektionswänden, in Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen. Schon der Name „museum in progress“ verrät eine veränderte Haltung im Verhältnis Kunst und Öffentlichkeit gegenüber den sechziger und siebziger Jahren. Sahen Künstler damals in der Öffentlichkeit eine Befreiung vom und eine Alternative zum Museum, so erwies sich in der Folge diese Freiheit als trügerisch. Die Kunst geriet auch außerhalb des Museums in Abhängigkeiten: der Subventionsgeber, des Marktes, der Sponsoren. Das Museum hat weiterhin oder in der gegenwärtigen Krise wieder die (Schutz?)-Funktion, Kunst zu ermöglichen, allerdings erstens im vollen Bewußtsein jener durch die Kontext-Kunst bewußt gemachten Abhängigkeiten von der Gesellschaft, und zweitens in jener sehr erweiterten Form, die die Künstler in den sechziger Jahren eröffnet haben. Beides ist die Strategie des museum in progress. Es versteht sich als Clearing-Stelle, die der Kunst „temporäre Ausstellungsräume“ im massenmedialen Raum eröffnet, und zwar nicht auf jene subversive Weise, in der dies in der Konzept- und Happening-Kunst geschah, sondern in Form eines Kontrakts auf Zeit, mit klaren finanziellen, logistischen und inhaltlichen Vereinbarungen. Die Finanzierung unterscheidet sich bei „Travelling Eye“ nicht unwesentlich von den üblichen Finanzierungsformen durch Markt, Subvention oder Sponsoring. Markt schied aus, da das Projekt kein verkaufbares Produkt darstellt. An die Stelle der Subvention trat eine Leistung der öffentlichen Hand im Rahmen des Kuratorenprogramms der vom Bundesministerium für Verkehr Wissenschaft und Kunst beauftragten Kuratorin Stella Rollig, die „Travelling Eye“ gemeinsam mit dem Schweizer Kurator Hans-Ulrich Obrist konzipierte. Aus dem Kuratoren-Budget wurde die Arbeit der Künstler bezahlt. Auch die finanzielle Leistung des Nachrichtenmagazins „profil“ – die Zurverfügungstellung von 48 Doppelseiten – ist nicht ohne weiteres mit der üblichen Form von Sponsoring vergleichbar, da hier – ähnlich wie bei den „Austrian Airlines“ in einem anderen mip-Projekt, einer jährlichen Wiener Plakataktion – das Unternehmen selbst zum Ausstellungsveranstalter, besser noch im Fall von „profil“ und „Travelling Eye“, zum Veranstaltungsort wird. Eine Erkenntnis der Kontext-Kunst der neunziger Jahre im Gegensatz zur Concept-art der Sechziger und Siebziger ist, daß Kunst ungewollt Teil der gesellschaftspolitischen Machtverhältnisse ist. Logistisch war „Travelling Eye“ daher auf der Ebene der Entscheidungsträger abzuwickeln. Nicht eine Komplizenschaft zwischen Künstlern und Kunstredakteur, die einer Chefredaktion oder einem Herausgeber untergejubelt wird und dann jederzeit den Kriterien Geschmack, Erfolg oder ganz simpel Platzzwang unterworfen ist, konnte das Modell sein, sondern eine klare vertragliche Abmachung zwischen der Clearing-Stelle „museum in progress“ einerseits und den Verantwortlichen in Verlag und Redaktion andererseits. Letztere waren der damalige Ko-Geschäftsführer der Wirtschafts-Trend ZeitschriftenverlagsgesmbH Peter Allmeyer Beck und der damalige Herausgeber des Nachrichtenmagazins „profil“, Hubertus Czernin – beide Kunstliebhaber, -förderer und -sammler, beide aber konfrontiert mit einer auch für sie völlig neuen Form von Kunst, Kunstvermittlung und Kunstrezeption, für die sie mit allen unternehmerischen und publizistischen Überlegungen die Verantwortung übernahmen. Der Mut von Czernin und Allmeyer-Beck ist inzwischen durch das internationale Echo auf „Travelling Eye“ belohnt worden.

Dieses Echo ist indes auch die Folge des inhaltlichen Konzepts der Fotoserie, für das Hans-Ulrich Obrist und Stella Rollig zeichnen. Es war sehr präzise und subtil auf den medialen „Ausstellungsraum“ eines Wochenmagazins wie es „profil“ darstellt, zugeschnitten. Das beginnt mit der Neuinterpretation des „Fotos der Woche“, dessen doppelseitigen Platz „Travelling Eye“ einnahm. Auch die „Magie“ der Zahlen – 4 Fotos, 12 Künstler, 48 Folgen – trägt dem speziellen periodischen Charakter des Wochenmagazins Rechnung In einer Tageszeitung oder einem Monatsmagazin müßte der Rhythmus ein ganz anderer sein. Die Anzahl der 12 Künstler erlaubte eine überschaubare Variation – nach inhaltlichen und technischen Anliegen, und auch nach dem Bekanntheitsgrad der Künstler. Ein wesentlicher Reiz der Serie war, daß hier wenig bekannte und weltberühmte Künstler einander ablösten, und daß jeder von ihnen in seinen 4 Folgen unterschiedlichste Formen des Seriellen – Wiederholung, Entwicklung Kontrast – entfalten konnte. Die 48 Folgen schließlich – innerhalb des Erinnerungsrahmens von knapp einem Jahr – bildeten ein Gesamtwerk, ein „Jahrbuch“. Auch ein medialer Ausstellungsraum ist nur so gut wie die Künstler, die ihn füllen. „Travelling Eye“, das möglicherweise komplexeste Projekt in der Geschichte der Medienkunst, ist daher der Erfolg von 12 sehr verschiedenen Künstlern, die gemeinsam ein Werk schufen.

(Oktober 1996)

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