KünstlerInnenporträts 80

Gespräch mit Arnulf Rainer

Andreas Spiegl: Ja, hallo Arnulf Rainer, ich freue mich, daß ich heute die Fragen stellen darf. Zu Ihrer Arbeit: Ich würde sagen, damit wir dem Publikum einen Einstieg geben können, wäre es vielleicht nicht uninteressant, noch einmal in die Geschichte zurückzugehen, um so eine Art kleinen historischen Kontext zu bauen. Und was für mich da schon sehr spannend wäre, wäre die Frage um die fünfziger Jahre, wo Sie schon mit Texten Ihre Arbeit begleitet haben, wo ganz wesentliche Formulierungen vorgekommen sind. Also unter anderem war dabei: „Künstler sein und die Kunst verachten“, oder: „Malerei, um die Malerei zu verlassen.“ Und ein bißchen später in den sechziger Jahren haben Sie den Künstler als den heroischen Zunichtemacher beschrieben. Es würde mich interessieren, wieweit da ein historischer Kontext maßgeblich war dafür, so eine Position einzunehmen, quasi eine Antikunst-Position?

Arnulf Rainer: Ja, das war – so glaube ich – nicht eine Antikunst-Position, sondern sozusagen eine Ausdehnung bis zu einer Grenze, die man sich damals vorgestellt hat.

AS: Irgendwie hat man ja das Gefühl, wenn man diese Sätze liest, ich wiederhole es noch einmal: „Künstler sein und die Kunst verachten“, dann hat das fast so eine Art von moderner Doktrin, also wo sich eine Kunst nur tatsächlich erweitern und ausdehnen kann, wenn sie den Begriff, den sie von sich selber hat, in irgend einer Art zu sprengen versucht. Jetzt müssen wir uns im Zusammenhang mit einem historischen Kontext natürlich vergegenwärtigen, daß Sie, soweit ich jetzt informiert bin, Jahrgang '29 sind, das heißt, in Ihrer Jugend eigentlich den zweiten Weltkrieg und all das was davor war, mitgemacht haben und eigentlich angetreten sind, mit einer – nennen wir es einmal – unglaublichen gesellschaftlichen Krise. Also muß so etwas wie eine Art globaler Begriff von Gesellschaft massivst gescheitert sein.

AR: Das ist schwierig, wie Sie da von „gesellschaftlicher Krise“ sprechen. Das war die Nachkriegszeit. Das war ein gesellschaftlicher Wandel, aber Krise kann man das. ja, ich tu' mir jetzt schwer mit Ihren Begriffen. Sie haben jetzt – glaube ich – sechsmal gesagt „Kontext“. Wir müssen jetzt schauen, daß wir irgendwie gemeinsame Begriffe finden, weil ich kann kein Seminar über mich halten. Ich möchte mich also nur in Wörtern ausdrücken, die ich mir zu eigen gemacht habe und die nicht gelesen worden sind.

AS: Ja, dann nennen wir es „Zusammenhang“ statt Kontext – also ein gesellschaftlicher Zusammenhang.

AR: Na ja, da muß ich schon sagen, ich verstehe zum Beispiel nichts von „Gesellschaft“, und der „Zusammenhang“, das ist ungeheuer kompliziert; und es ist keinesfalls so, daß man 1950 oder '53 schon Adorno gelesen hat oder so.

AS: Das muß nicht sein.

AR: Das ist jetzt, daß man das tut, aber das hat es damals gar nicht gegeben.

AS: Das glaube ich auch, aber es gab ja andere Autoren, auf die Sie sich bezogen haben, also die zumindest in Klammer in Ihren Texten erwähnt waren; ob das jetzt Laotse war, zum Beispiel. Also es hat schon den Versuch gegeben, eine Art von philosophischen Rahmen zu konstruieren, um auch eine Vorstellung von Wahrheit, als Topos zumindest oder als Thema, zur Diskussion zu stellen.

AR: Ja, fangen wir einmal so an: Ich bin von Wiener Surrealistenkreisen nach Paris zu Paul Celan empfohlen worden und bin mit Maria Lassnig auch damals 1951 hingefahren, und der hat mir Kontakte eröffnet, vor allem zu den Surrealisten. Er hat mir aber damals erzählt, von einem Werk, das er gerade übersetzt, das heißt: „Die Lehre vom Zerfall“, von Cioran, und dieses Werk ist dann Mitte der fünfziger Jahre auch erschienen, und das ist, glaube ich, ein Schlüsselwerk für meine Arbeit gewesen. geworden, und – ja – Cioran, das war kein Soziologe.

AS: Es muß ja auch gar nicht so sein, daß wir über eine soziologische Perspektive sprechen. Was mich weit mehr interessiert, ist diese Frage, daß Sie in Ihrer Arbeit scheinbar immer wieder versucht haben, so einem Begriff von Wahrheit nachzuspüren, also.

AR: Ja, das hat es damals gegeben und der Bezug zu Cioran ist wahrscheinlich, daß ich und er dieselben Quellen gelesen haben. Das waren damals die Upanischaden und auch die chinesische Zen-Philosophie und Laotse und vielleicht später auch Johannes vom Kreuz; das ist sozusagen eine negative Theologie: Es wird etwas gesucht, das man nur durch negative Definition irgendwie erfassen kann. Also meine Arbeit kommt nicht von der Soziologie her oder von einem Gesellschaftsverständnis, sondern eher von frühen religiösen, mystischen Texten, die mich damals fasziniert haben; ich habe eine Verbindung gesucht zu meiner Arbeit. Einerseits habe ich versucht, durch diese Texte meine Arbeit zu interpretieren, anderseits haben sie mich wahrscheinlich auch angeregt, verschiedene Stadien meiner Arbeit oder verschiedene Schritte meiner Arbeit zu tun.

AS: Und der Begriff des Negativen? Also Sie haben jetzt selber die negative Theologie zitiert. Wenn Sie davon sprechen, ich sage es noch einmal: „Malerei, um die Malerei zu verlassen“ und: „der Künstler als der heroische Zunichtemacher“, das heißt, dann wird ja auch dieser Begriff des Negativen irgendwo gegen den Begriff der Kunst selbst gewandt. Wenn man jetzt Ihre Arbeitsweise ansieht, wir sprechen von „Übermalungen“, teilweise von „Auslöschungen“, dann wird hier sozusagen die Idee des Bildes – um jetzt einmal über dieses Medium zu sprechen – auch attackiert.

AR: Ja, aber ich meine, das Ganze ist natürlich auch aus heutiger Sicht, aus der heutigen Übersicht etwas Relatives gewesen. Damals hat man das vielleicht – also in dem ganzen Enthusiasmus, den man als junger Mensch hat – sozusagen als einen absoluten Schritt formuliert. Aber das, auch das ewige Ausbessern, das ewige Verbessern, ist ja auch noch immerhin als. ja, alles fast noch in der Malerei selbst passiert, beziehungsweise auf der Bildfläche. Dadurch war vielleicht ein Drang da, an die Grenzen zu gehen. Aber es war keinesfalls so, daß ich also von der Malerei weggegangen bin. Ich bin ja immer noch Maler – nicht? Natürlich begreife ich durchaus auch die Qualitäten von Malerei. Also ich nehme es natürlich nicht so, daß die Malerei da. was weiß ich. Die Zeit vor mir, das war ja die Nazizeit sozusagen. Die großen Künstler, natürlich auch vor allem die Frührenaissance und das frühe Mittelalter und so weiter – das ist Malerei, die mich durchaus fasziniert. Ich habe das alles damals sehr wenig gekannt, das muß ich auch sagen.

AS: Ein zweiter Punkt: Wenn wir jetzt über Malerei sprechen, wir könnten ja auf der einen Seite über unterschiedlichste Begriffe von Malerei sprechen, was wir hier sicher nicht tun wollen; wir könnten genauso über Bildtheorien sprechen, über erweiterte Malerei, wie auch immer man das in den sechziger Jahren genannt hat. Was für mich dabei sehr spannend ist, daß Ihre Arbeit, so sehr sie formal Bezugsmomente zu haben scheint – ob das jetzt die Colourfield-Malerei in den fünfziger Jahren war, wo Sie schon mit „Proportionsstudien“ gearbeitet haben und versucht haben, so eine Art von immanenter Qualität von Farbe auszuloten, oder eben den Bildbegriff selbst als eine absolut unvollendbare Größe in den Raum und zur Diskussion zu stellen – so hat man dennoch den Eindruck, daß ein ganz wesentliches Moment in Ihrer ganzen künstlerischen Praxis darin besteht, auch so etwas wie Selbsterfahrung mitzudenken. Also vor allem in Ihren Texten taucht es immer wieder auf, den Malprozeß selbst als Erfahrungsintensität wahrzunehmen.

AR: Ja, da haben Sie sicher Recht. Ich habe mich dafür interessiert und das Erlebnis des Malens war für mich auch immer sehr, sehr wichtig; und ich habe da ja sehr viel erfahren, was ich vorher überhaupt nicht gewußt habe, daß es so etwas überhaupt gibt.

AS: Ja, wir könnten das ja auch – nennen wir es überspitzt formuliert – als sehr egozentrische Praxis beschreiben, also daß man ja durchaus die Behauptung in den Raum stellen könnte, derjenige, der von Ihrer Malerei am meisten profitiert, sind ja zunächst einmal Sie selbst als Autor und Rezipient des eigenen Schaffensprozederes.

AR: Ja, da haben Sie Recht, ja, wahrscheinlich. Nur das hat man damals auch gesagt: das hat mit Kunst nichts zu tun, das ist reine Selbstverwirklichung. Der Künstler muß etwas zu einer intensiven Form bringen, dann ist es allgemein gültig und kommunikativ; und das geht dann viel weiter wie die bloße Selbstverwirklichung – nicht?

AS: Ich meine, im selben Maße könnte man ja auch sagen, daß Sie bei Ihrer Arbeit stets versucht haben, tatsächlich auch neue Bereiche mitzuintegrieren; also ich denke jetzt, was man in den sechziger Jahren vielleicht als „Aktionismus“ oder als „Bodyart“ beschrieben hat, taucht ja bei Ihnen auch auf – auch in einem malerischen Prozedere. Wenn ich an die „Face-Farces“ denke, das heißt, wo Sie selbst versucht haben, mit Ihrer eigenen Mimik Fotos herzustellen, die dann wieder als Ausgangspunkt für weitere gestalterische oder zeichnerische oder malerische Fragen fungiert haben, dann denken Sie auch. oder versuchen auch diesen Begriff des Bildes und des Ausdruckspotentials, das sich bildhaft herstellen läßt, in irgendeiner Form auszudehnen.

AR: Ja, sicher waren da Schritte – nicht? Meine Schritte haben sich immer. also ich bin nie ein Aktionist geworden. In dem Film von Kubelka, wo ich nur solche Körperhaltungen, Körpergesten, Grimassen oder was immer mache. das Endziel war eine andere Art von Bild, eine bis jetzt für mich nicht bekannte Form des Bildes.

AS: Man könnte auch sagen, daß diese Idee des Unbekannten etwas zu sein scheint, daß Sie – und vielleicht spielen da noch diese ganzen Schriften rund um Laotse oder die Upanischaden nach – diese Idee des Unbekannten irgendwo in sich selbst vermuten.

AR: Na ja, Da sind wir jetzt an einer heiklen Stelle. Ich habe das selber vielleicht auch formuliert, sozusagen als individuell oder subjektiv oder selbstbezogen, aber in dem Moment, wo sich das in ein Werk ausbreitet, geht das weit darüber hinaus; und das kann man ja allein so nicht sagen, daß es etwa nur aus den Unbewußtseinserforschungen kommt. Man kann auch sagen, daß die Proportionen zum Beispiel, die Farbgewichte. oder daß die verschiedensten Formen eines Unbewußten, das aber gemeinsam ist, das zwei. in einer Persönlichkeit da ist, aber nichts Unkommunikatives ist, sondern eben Mitteilbares und Nachvollziehbares für jeden; daß es nur ein Gewohnheitsprozeß ist, daß jeder. Es hat sich ja herausgestellt, daß es nach einigen Jahren oder Jahrzehnten eigentlich nicht so schwer ist, sich dann in diese Malerei auch hineinzuversetzen – nicht?

AS: Und jetzt anschließend kommen wir dennoch einmal zurück zu dem Begriff von Gesellschaft. Also wenn man sagt, man teilt ohnehin bestimmte Erfahrungspotentiale, also daß es eben nicht nur im Individuellen verhaftet bleibt, sondern immer mit der These antritt, daß es vielleicht eine Art von kollektivem Potential gebe; daß man auch einen Betrachter als potentiellen Rezipienten – der dem auch nachsetzen kann – versteht, da taucht so eine Art gesellschaftlicher Horizont auf. Da hat man das Gefühl, daß Sie ja versucht haben, sehr viele Ebenen, die jetzt – sage ich einmal – außerhalb von Ihnen existieren, unterschiedliche Erfahrungsformen einzubinden: ob das jetzt bei den Katatonen der Fall ist, oder Sie haben sich auseinandergesetzt mit der Bildnerei von Geisteskranken, um jetzt einmal diesen Titel von Prinzhorn zu erwähnen – das ja auch österreichische Tradition bekommen hat mit dem Navratil. Sie haben diese LSD-Zeichnungen gemacht, unter Psilocybin gearbeitet, unter Rauschzuständen gearbeitet, also Formen – sagen wir einmal – eines potentiell kollektiven Erfahrungsbereiches, die Sie aber versucht haben, dann für sich durchzuexemplifizieren.

AR: Ja, vielleicht tauchen diese da auf, aber ich kann eben nichts zu dem Thema „Gesellschaft“ überhaupt sagen; ich kann eben nur sagen, daß das Unbewußte natürlich sehr ähnlich ist. Aber Sie dürfen auf dem Begriff des Gesellschaftlichen nicht herumreiten, weil ich verstehe davon nichts. Ich halte den Begriff auch für derart inflationär, daß ich also, wenn ich ihn aussprechen würde, in einem Dings, daß ich da ein unangenehmes Gefühl haben würde, wenn ich ihn selber verwenden würde – nicht?

AS: Mhm. kommen wir zu einem weiteren Punkt: Es gibt von Ihnen auch in einem Text die Aussage, daß Sie – wenn Sie an die Idee der Verbesserung denken und Ihrem Werk dieses Quantum „x“ an Kunst zusprechen, dann erhoffen Sie, daß durch jede Korrektur, die Sie anbringen, eine Art von „x + 1“ Zustand herauskommt – also daß man dieses Kunstquantum „x“ um eine weitere Kategorie verbessert, in irgendeine Richtung. Jetzt würde mich interessieren, könnten Sie selber so etwas wie Kriterien formulieren, die sozusagen die Entscheidbarkeit dann möglich machen, wo dieses „+ 1“ auftaucht? Oder ist das vollkommen.

AR: Na, Sie können von mir nicht Kunstrezepte verlangen, auch nicht modernste oder so. Denn ich kann das nur allgemein empfinden, daß jede Zufügung bei einem Bild das Bild intensiver macht, komplexer, dichter; ein Bild entsteht durch eine Aufeinanderfolge von verschiedenen Gestaltungsakten, und jeder Gestaltungsakt, der muß sozusagen das Bild dichter machen, es muß intensiver sein. Ich kann Ihnen das nicht anders sagen. Man kann nicht sagen: Jetzt muß es mehr schattiert sein oder es müßten Komplementärfarben oder solche Sachen. Das sind diese alten Malerregeln, die heute natürlich vollkommen sinnlos sind und wahrscheinlich auch damals schon sinnlos waren, weil sie rein eine handwerkliche Zugabe betreffen. Allerdings haben die guten Maler damals auch schon – je weiter das Bild fortgeschritten war – durch das Dazumalen eben das Bild intensiver gemacht. Aber jetzt kommen wir auf einen ganz allgemeinen künstlerischen Schaffensprozeß.

AS: Na, wenn er allgemein wäre, dann würden Sie selber schon so ein gesellschaftliches Moment unterstellen. Ich will lieber bei dem Bereich bleiben, wo wir jetzt spezifisch über Ihre Arbeit sprechen, und davon ausgehend, daß jedes Bild sozusagen so eine Art Quantum „x + 1“ hat, könnte man Ihre Arbeit schlicht dahingehend interpretieren, daß es tatsächlich um den Versuch geht, die Erfahrung zu intensivieren; und dabei bedienen Sie sich auch – wenn man jetzt an die Fotoüberarbeitungen denkt – unterschiedlichster Bildmotive, die teilweise, gesellschaftlich gesehen, Extrempositionen wahrnehmen. Also sei das einerseits, daß Sie sich eben mit Katatonen auseinandergesetzt und versucht haben, diese auch selbst in irgendeiner Form zu mimen; und dann weiß man auch, daß die Gesellschaft gerade diese Gruppe von Personen immer marginalisiert oder ausgegrenzt hat. Ein zweites Thema wäre der Tod. Sie haben Totenmasken überarbeitet – wieder ein Thema, das eigentlich nur als Ausgrenzungsmechanismus wahrnehmbar ist. Sie haben sich mit pornographischen Arbeiten auseinandergesetzt – also immer wieder Versuche, wo extreme Grenzsituationen, wo Grenzerfahrungen gemacht werden, diese in Ihre Arbeit zu inkorporieren.

AR: Ja, ich habe immer das gesucht, was mich natürlich auch herausgefordert hat, wo es keine künstlerische Gestaltung gibt oder gegeben hat, die mich befriedigt hätte. Das mag schon sein, daß das gesellschaftlich gegeben ist. Themen sind sicher gesellschaftlich auch irgendwie in einem Bezugsfeld, das ist schon richtig, aber. ja – wieso nicht?

AS: Ja, kommen wir zu einem weiteren Punkt, der auch immer wieder angesprochen wird: diesen Begriff des „Österreichischen“. Jetzt haben wir schon besprochen, es gibt bei Ihnen Formen einer psychophysisch intensiven Erfahrung. Es gibt die Auseinandersetzung mit Geisteskranken, die Auseinandersetzung mit dem Tod – wir könnten das Ding auch Schmerz oder Lust nennen –, das sind ja so Kategorien, die man in der internationalen Rezeption gerne so als Mäntelchen um die österreichische Kunst hängt. Wie weit sehen Sie sich denn selbst diesem Begriff des „Österreichischen“ verbunden?

AR: Na ja, es gibt heute in der modernen Kunst zwei große Strömungen: Das eine ist eine katholische, die Sie ja eigentlich jetzt genannt haben; die geht weit über das Österreichische hinaus, in Spanien finden Sie die genauso – und eine kalvinistisch-protestantische, die auf das Saubere und Ehrbare und so weiter geht. In diesen zwei Kategorien, die natürlich auch ineinander übergehen, könnte man das sehen. Aber ich fühle mich nicht als österreichischer Maler, sondern höchstens als europäischer Maler; und das habe ich aber erst in Amerika gelernt, muß ich sagen. Ich habe das vorher nicht gewußt. Ich habe mich vorher für einen Kosmopoliten gehalten und in Amerika sieht man aber, daß die anders denken und vor allem, daß sie nicht auf einem Berg von Tradition leben – und zwar von sehr großer Kunst. Es hat ja in der europäischen Vergangenheit eine ungeheuer große Kunst gegeben, wahrscheinlich die intensivste – und wenn wir schon den Begriff haben – größte Kunst überhaupt – nicht? In Amerika gibt es das nicht und vor allem nicht diese Gewichte, und deswegen ist das Denken also ein bißchen anders. Wir haben den Begriff des Verwurzeltseins, das kann man auch durchaus. das muß man nicht nur negativ sehen – das hat man auch im Sinn, wenn man von unserer europäischen Kultur spricht – nicht? Weitere Länder, wie Japan oder Afrika, kenne ich zu wenig; wahrscheinlich würde man sich auch erst dort als Europäer erkennen. Wenn man sich nur in Europa aufgehalten hat, nimmt man alles selbstverständlich.

AS: Na ja, nun scheint aber dieser Begriff des Europäischen ein bißchen verwässert, wenn man jetzt an die Upanischaden, an Laotse denkt, an katholische Schriften, an Johannes vom Kreuz; dann gibt es da scheinbar so eine Art von grundkollektiver Erfahrbarkeit, die quer durch die unterschiedlichen Kulturen auftaucht – also von der Argumentation her.

AR: Ja, das mag schon sein, daß es da auch etwas Gemeinsames gibt, ein gemeinsamer Nenner, aber Cioran – würde ich sagen –, ja, das geht vielleicht über das Europäische hinaus, aber umgekehrt hat Cioran eigentlich außerhalb Europas überhaupt keinen Widerhall oder kein Verständnis gefunden, schon in Amerika nicht; deswegen bin ich da ein bißchen vorsichtig. Aber, was ich nicht ganz verstehe, wieso wollen Sie das alles so. diese Schubladisierung: Ich meine, für eine grobe Orientierung mag das helfen, wenn man, ich weiß nicht, etwa für Kunsterzieher – wenn die das lesen, damit sie sich ein bißchen orientieren. Aber ich glaube, viel wichtiger ist, daß man bei einem Künstler nach seiner direkten Erfahrung fragt, nicht nach diesen ganzen Begriffen, die Sie sicher studiert und gelesen haben. Der Maler hat das nicht so. der nimmt das auch nicht so ernst. Wenn er das liest, dann ist das für ihn sehr wichtig, wenn es Früchte bringt. Wenn es steril ist, dann vergißt er das einfach und stürzt sich in das Neue. In der Kunst zählt ja nur, was Früchte bringt, also was zu etwas gebracht hat; nicht die vielen Ansätze, die rein theoretisch sind, die aber nicht besondere Kunst gebracht haben, das kann man ja vergessen, es hat kein Gewicht in der Kunst – nicht? Und selbst die blödeste Theorie, Klamauk, oder die absurdeste Theorie – wenn sie Kunst hervorbringt, die wirklich Gewicht hat und einem tiefer geht, dann hat sie richtig gehandelt.

AS: Darf ich in dem Zusammenhang fragen, warum Sie Ihr Museum gerade in New York errichtet haben? Wo Sie jetzt vorhin gesagt haben, daß es einen Unterschied zwischen einer europäischen und einer amerikanischen Geisteshaltung gibt.

AR: Ja, kurz beantwortet: Ich habe selbst gar kein Museum errichtet, sondern es hat sich die Gelegenheit ergeben, daß das in Amerika jemand machen wollte, der dort lebt, das Ganze bezahlt hat und sich dafür auch begeistert hat. Ich wollte auch ein Museum in Österreich haben, aber da ist alles schiefgegangen. Es haben nie die Finanzen gestimmt; dann wollten sie in Berlin eines machen und dann hat sich sehr schnell herausgestellt, daß das in Konkurs geht, binnen kurzem, weil das finanzielle Fundament nicht gestimmt hat, dann ist auch dieses Projekt abgebrochen worden. Also der Künstler macht nicht selbst ein Museum, sondern es macht immer der ein Museum, der Geld dafür hat und der die Begeisterung mitbringt. Erstens bedeutet ein Museum sehr, sehr viel Arbeit; dann kostet es 'was, und ich bin da nicht der Zirkusdirektor, sondern ich bin nur der Artist, der auf den Seilen oder irgend etwas.

AS: Das heißt, da haben Sie auch überhaupt keine Probleme gehabt, daß jemand kommt und sagt: „Lieber Arnulf Rainer, laß' uns doch ein Museum über Ihre Arbeit machen!“

AR: Ich habe damit keine Probleme. Ich war nicht sehr zufrieden mit dem Museum, weil es mir zu wenig vielfältig war. Es war zu einseitig und die ganze Vielfalt meiner Arbeit, die man etwa bei dieser Ausstellung in Krems sieht, war überhaupt nicht eingefangen. Aber natürlich habe ich nicht widersprochen. Wir hoffen jetzt, wir ziehen um; das Museum zieht jetzt in das nächste oder in das nächst-nächste Haus. In jeder Etage haben Künstler einen großen Raum. Ich hoffe, daß da ein anderes Konzept sein wird und daß ich mich absetzte. Das sind allerdings amerikanische Künstler, die dann in den anderen Etagen sind.

AS: Kommen wir noch einmal zurück zu diesem Begriff des „Künstlerischen“, dessen, was für Sie wichtig ist. Sie haben ja diesen Einfluß theoretischer Überlegungen einmal so zur Seite gestellt – als vielleicht nicht ganz so wesentliche Einflußgröße, und noch einmal zurückgegriffen auf die Idee, was sich der Künstler selber denkt, was ja schon wieder so eine Art von Individualisierungsmaxime wäre. Man könnte natürlich jetzt die Frage in den Raum stellen, inwieweit sehen Sie denn sich selbst als Künstler als privilegierte Position in einer Gesellschaft?

AR: Ich bin privilegiert mich anzustrengen. Als Künstler hat man Gaben und Möglichkeiten und daraus erwachsen Pflichten, sich mehr anzustrengen wie andere. Die Anstrengung ist nicht nur, daß man schwitzt oder mit den Muskeln arbeitet, sondern das ist eine innere Anstrengung, eine Anstrengung nach einer gewissen. ja, ich kann es vielleicht nicht so einfach formulieren. wieweit das privilegiert ist oder nicht, das ist eine Sache, die jeder für sich selbst definieren muß. Aber die Menschen sind sehr verschieden, es gibt in allen Gebieten Leute, die sich sehr anstrengen und solche, die sich eher sagen, na' machen wir uns ein eher angenehmes Leben – nicht?

AS: Gut, nun könnten wir auch hinzufügen, daß die Idee der Anstrengung ja auch eine sein könnte, die mit einer Art gesellschaftlichem Sendungsbewußtsein auftritt, also die klassische Weltverbessererkomponente. Wie weit spielt denn das für Ihre Arbeit überhaupt eine Rolle?

AR: Na ja, ich habe kein Sendungsbewußtsein, zumindest in verbaler Hinsicht weiche ich eher aus und will mich nicht besonders produzieren. Höchstens, wenn ich gefragt werde, da muß ich in meiner Verlegenheit irgend etwas antworten. Ich weiß aber, daß das keine sehr wichtigen Antworten sind, weil das Wichtigste passiert beim Malen. Ja, vielleicht hat der Künstler ein Sendungsbewußtsein auf seinem Gebiet, auf diesem Gebiet eben der Kunstwerke, das mag schon sein, weil er eine ungeheure Energie hat, manchmal. Es ist ja nicht so, daß er die Früchte im Moment erbt. Das meiste, was sich in der Kunst überhaupt an Früchten einstellt, ist ja etwa zwanzig. zehn, zwanzig, dreißig Jahre danach – nicht?

AS: Ja, aber das heißt.

AR: Ich lebe jetzt von meiner Arbeit, die ich in den fünfziger, sechziger und eventuell siebziger Jahren geleistet habe. Ich rede jetzt vom Materiellen und auch zum Teil von der Reputation her – nicht?

AS: Die Frage, die noch im Raum stehen würde, wäre, wie weit Sie selbst Ihre Energien aus einem Begriff von Kunst ziehen, den Sie sehr offen definieren? Also wenn Sie argumentieren für eine Arbeit, dann sprechen Sie über die Dichte und die Komplexität.

AR: Ja, ja. Also die Definition bei einem Künstler kommt immer im Nachhinein. Und der Kunstbegriff ist bei einem Künstler immer interessant – wie weit er diesen schrittweise erweitert, in etwas anderes verändert oder verwandelt. Kein Künstler will allzu genau wissen – über Begriffe, um dann danach zu malen. Wichtig ist, daß alles ein bißchen rätselhaft und offen ist; und das ist eben ein sehr offener Kunstbegriff, der sich dann höchstens durch Bilder ausweist und definiert, aber nicht durch Worte. Künstlerworte sind so Selbstsuggestionen, so Parolen, wo man sich selber vielleicht anfeuert oder verteidigt, aber allzu ernst kann man das nicht nehmen.

AS: Also das heißt, für Sie deckt dieser Begriff des Künstlerischen schon automatisch so etwas wie gesellschaftliche Relevanz ab, denn irgendwo hoffen Sie ja, daß irgend jemand in Ihrem Umfeld diese Arbeiten von Ihnen auch wahrnimmt und irgend etwas damit anfangen kann.

AR: Das ist keine Hoffnung, das sind Erfahrungen. Daß die Kunst irgendwie bei den Menschen. sie war schon sehr viel früher da, früher wie die Soziologie und die Analysen; und sie hat sich immer irgendwie, durch ihre eigene Kraft, auch Interesse geholt bei anderen Menschen; und, wie sich das aus der Geschichte erweist, hat der Künstler die Erfahrungen natürlich aus seiner eigenen Biographie.

AS: Und wie decken sich für Sie diese Begriffe, daß Sie einerseits Kriterien von Qualität nachsetzen, die scheinbar ziemlich präzise definiert werden wollen pro Bild, und zum anderen einen Begriff von Offenheit verwenden?

AR: Ja, bitte – Qualität: Qualität können Sie nicht so definieren, daß Sie einfach sagen dies und das. Das sind große Rahmenbegriffe. Wirkliche Qualität stellen Sie fest, indem Sie zehn Bilder haben und dann durch langes Anschauen und Vergleichen sagen können, das ist besser wie die anderen, oder das ist das Schlechteste davon. Das ist ein relativer Begriff, der nur durch Vergleiche stattfindet, und zwar durch visuelle Vergleiche; nicht daß man durch irgendwelche Theorien das nur so.

AS: Der Begriff von Offenheit?

AR: Ja, der Begriff von Offenheit ist, daß Sie – wenn Sie den nächsten Schritt machen. Sie haben das, Sie wollen jetzt irgend etwas anderes machen – daß Sie zwar Qualität anstreben, aber gar nicht wissen. das stellt sich erst bei der Arbeit heraus, auch durch Vergleichen, wie und wer Qualität hat. Ich arbeite zum Beispiel an Reihen von Bildern gleichzeitig, immer in Serien, und dann kommt mir vor, aha, das ist weiter, das ist mehr und das, da komm' ich nicht mehr weiter, das muß ich jetzt wegstellen. Wenn ich automatisch daran weiter arbeite, wird es vielleicht schlechter – nicht? Ich muß es vor mir selber retten. Und diese ganzen Erfahrungen, direkte Erfahrungen der Werksbetrachtung und der Werkseinschätzung, sollten durchaus kritische sein. Das ist auch eine Leistung, das man überhaupt seine Schwächen, die Schwächen der Bilder erkennt – nicht? Je mehr Zeit verrinnt, um so mehr Distanz Sie haben, um so klarer können Sie auch Ihre Bilder qualifizieren.

AS: Und zur Bewertung dessen, was dann wichtig ist oder was gut ist, da müßten Sie ja rein theoretisch diese Qualitäten aus dem Bild selbst ableiten, so eine Art von immanenter Qualität.

AR: Ja, das sieht man durch Vergleich. In der Kunst findet überall ein dauernder und immenser Vergleich statt. Ich muß mich vergleichen mit anderen meiner Zeitgenossen, oder ich muß mich vergleichen mit einer früheren Generation, oder die modernen Klassiker müssen sich vergleichen lassen mit den großen Klassikern der Renaissance, und so weiter. Das ist es, alles passiert in der Kunst – es ist ein Dauervergleich, überall. Deswegen gibt es auch diese Ausstellungen mit verschiedenen Künstlern, die untereinander verglichen werden, und so weiter; nicht durch irgendwelche begriffliche Festlegung, sondern durch die Vergleiche eben. Auch der Vergleich mag nicht nur visuell sein, das mag auch mit spiritueller Anstrengung bei vielen Künstlern, bei vielen Kunstwerken zu tun haben; das ist auch sicher ein wichtiger Faktor, aber so ergibt sich Kunst, nicht durch. Alle Begriffe, die durch Analysen entstanden sind, sind im Nachhinein entstanden – und die darf man als Künstler nicht ernst nehmen, sondern man muß die Begriffe selber erst erschaffen. Wenn das auch nicht immer so möglich ist – nicht? Ich weiß schon, Sie haben die Theorie, daß alles gesellschaftlich bedingt ist. Ich glaube aber daran nicht. Aber das ist ein Glaube – nicht? Ausweisen tut sich der Künstler durch das, was entsteht. Wie gesagt, er kann sich an den blödesten und absurdesten Akademismen ausrichten, wenn daraus gute Kunstwerke entstehen, ist es für diesen Fall und für seinen Fall speziell dann sinnvoll gewesen. Für mich ist das nicht sinnvoll, mir ist das zu steril, alles was „gesellschaftlich“ oder dies und das ist; das ist ein ungeheures Wirrwarr, das Gesellschaftliche, das keiner überblickt. Jeder hat seinen Standpunkt, und von dem glaubt er alles zu erklären. Natürlich gibt es auch formulierungs- und sprachmächtige, wie den Adorno und so, die dann natürlich einen großen Einfluß haben oder gehabt haben; das mag schon sein. Es gibt natürlich auch gescheite Interpretationen auf dieser Ebene, das will ich nicht sagen, aber für mich spielt das. also ich, wenn ich das lese, dann interessiert mich höchstens wie gut oder sprachkräftig das im Moment ist, aber daß ich irgendwie Konsequenzen daraus ziehe würde, das überhaupt nicht.

AS: Das heißt, für Sie ist das spirituelle Moment immer eines, das viel zentraler ist als das theoretische?

AR: Ja, wenn Sie so nett sind und das trennen, dann bin ich schon erfreut. Das Spirituelle arbeitet ja auch nicht mit exakten Begriffen. Das Spirituelle arbeitet ja mit Metaphern – nicht? Es ist ein Denken mit Metaphern, in Metaphern oder mit Symbolen. Und das regt mich wesentlich mehr an, als die Soziologie.

AS: Herr Arnulf Rainer, ich glaube die Zeit, die wir zur Verfügung haben, ist um. Ich danke für das Gespräch.

AR: Bitte.

(Wien, Juni 1997)

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