KünstlerInnenporträts 38

Gespräch mit Hermann Nitsch

Otmar Rychlik: Was ist der neueste Stand?

Hermann Nitsch: In einem Jahr möchte ich mein Sechstagespiel, also mein Hauptwerk, realisieren, und ich muß jetzt gleich dazu fragen: Was heißt neu? Es gibt Kunst, die ist vielleicht ein ewiges Jugendwerk. Als Zwanzigjähriger waren in meiner Arbeit gewisse Grundstrukturen ausgereift, die quasi so wachsen mußten wie die Jahresringe an einem Baum; es war wohl die Grundstruktur da, aber sie war erst angedeutet, und das Neueste ist eben das jetzige Stadium dieses Wachstums.

OR: Was war das Entscheidende an der Grundstruktur damals, von der Du sagen kannst, daß sie sich bis heute erhalten hat, bzw. wo stellst Du selbst Veränderungen der Grundstruktur fest?

HN: Ich wollte der Kunst etwas abverlangen, was man ihr bisher noch nicht abverlangt hat. Es ist auch damals schon um eine ungeheure Monumentalität gegangen, es war von Anfang an eine Überlebensgröße geplant. Das Ganze sollte sechs Tage dauern, es sollte ein Fest sein, sollte Theater sein, sollte Malerei, eben ein Gesamtkunstwerk sein. Es ist schon im Konzept gelegen, daß meine Arbeit anders sein sollte als das, was man bisher an Kunst gesehen hat. Das heißt aber nicht, daß meine Arbeit besser sein sollte als ein Tizian oder ein Rembrandt oder so – also auf diese Konkurrenz habe ich mich sowieso nicht eingelassen. Ich wollte nur etwas anderes erreichen, was ich vielleicht erst jetzt in der Lage bin, eben tatsächlich zu verwirklichen.

OR: Es würde mich doch noch genauer interessieren, inwieweit sich Unterschiede eingestellt haben. Ich weiß ja, und das kann man auch oft nachlesen, daß das Orgien-Mysterien-Theater von vornherein in der Weise konzipiert war, wie Du es dann später durchgeführt hast – und trotzdem interessiert mich, ob es da nicht Differenzen gegeben hat. Die Vorstellung davon muß doch damals anders gewesen sein.

HN: Ich glaube, Du hast mich vorhin nicht verstanden, oder ich habe es nicht zum Ausdruck gebracht: Eine gewisse Grundstruktur war da, aber diese ist mit der Ausreifung gewachsen. Es wäre also vollkommen unrichtig, zu sagen, ich habe damals eine Idee entwickelt und bin jetzt dabei, diese Idee zu realisieren. Es ist nicht so. Es ist eine Idee entwickelt worden, und diese Idee ist mit der Realisation gewachsen, wie ich schon gesagt habe, wie das bei einem Baum ist, es sind eigentlich alle Strukturen schon gegeben, und dann bekommt er Äste und wird immer dicker und wird immer breiter, bekommt immer stärkere Wurzeln, oder man könnte so weit gehen und es mit dem Befruchtungsvorgang vergleichen, im Sperma ist eigentlich alles drinnen, da ist latent der ganze spätere Mensch drinnen, und so ähnlich war es mit meiner Arbeit.

OR: Mich interessiert aber das Prinzip, damit es nicht zu einer Sicht kommt, die dann meint, Du vollziehst immer wieder.

HN: Nein, das wäre auch vollkommen falsch. So sehe ich es nicht. Bei jeder Realisation habe ich gelernt, und ich wäre als Zwanzigjähriger auch nicht in der Lage gewesen, die Vorstellungen zu realisieren, die ich heute realisieren kann. Ich habe wohl das Konzept dafür gehabt, aber ich hätte es nicht zu Papier bringen können, dazu war ich nicht in der Lage. Es gibt ja die frühesten Schriften, da wird das alles angedeutet, und es gibt gewisse Aktionen, die im Konzept schon da waren, und das ist eben gewachsen, es ist ein permanenter Wachstumsprozeß.

OR: Könntest Du sagen, daß es im Zuge dieser Entwicklung Schritte gegeben hat, die dich vielleicht besonders überrascht oder gefreut oder selbst erstaunt haben?

HN: Als eigentlich ganz junger Mensch habe ich versucht, einige meiner Ideen zu realisieren, und ich war dann ganz erstaunt, wie sehr das funktioniert hat und wie sehr die – nennen wir es jetzt pathetisch – Visionen richtig waren, wie sehr ich eigentlich recht hatte. Ich kann mich erinnern, wie ich das erste Mal Fleisch eingesetzt habe oder das erste Mal Tierkadaver: Ich war betroffen von dem starken sinnlichen Eindruck, der von dieser Aktion, von diesem realen Geschehen ausging.

OR: Und da sind andere Schritte, wahrscheinlich wie Vokabeln zu einer Sprache, doch hinzugetreten? Der Wert der Malerei, darüber hast Du natürlich schon oft gesprochen, aber wie weit hat er sich wirklich emanzipiert von tachistischen und anderen Qualitäten?

HN: Wer meine Malerei kennt, muß eigentlich sehen, daß ich mit der tachistischen Modesprache verhältnismäßig wenig zu tun hatte und zu tun habe.

OR: Was ist das Modische am Tachismus?

HN: Sagen wir, so Schnörkseln, die der Mathieu, der Prachensky gemacht hat, die der Mikl macht, also die ich bei Tapiès und Saura erkennen kann, bei den berühmten Amerikanern, das hat mich alles nicht interessiert. Mich hat das Verschütten und Verspritzen einer bestimmten Substanz beschäftigt, also rote Farbe, die natürlich in der Nähe des Blutes gestanden ist. Ich habe das ja immer wieder gesagt, und es sollte gar nicht notwendig sein, daß ich das jetzt noch einmal wiederhole: Meine Malerei ist die visuelle Grammatik meiner Aktion auf einer Bildfläche, und die Aktion selbst geht dann hinaus in den Raum, verläßt die Bildfläche und bedient sich der Wirklichkeit. Es werden Gedärme eingesetzt, Fleisch, Blut, Tierkadaver, menschliche Körper, das spielt sich nicht mehr innerhalb eines Rahmens ab, die Aktion kann sich überall ereignen, in jedem Raum, da gibt es keine Einengung mehr. Die Aktionsmalerei ist ja auch schon, bis zu einem gewissen Grad, das Verlassen des Formats. Das Beschütten und Beschmieren der Leinwand oder einer Wand ist ja bereits ein aktionistischer Vorgang. Und davon ist meine Aktionsmalerei bis heute geprägt.

OR: Ich glaube aber, gerade in der Malerei stärkere Veränderungen zu sehen, die ihr neuerdings doch etwas Emanzipiertes innerhalb Deines Werkes geben. Gerade durch den Einsatz von Farben, den Du in den letzten Jahren sehr verstärkt hast, scheint mir die Malerei an Autonomie innerhalb des Corpus Deines Orgien-Mysterien-Theaters gewonnen zu haben.

HN: Ich bin vor Versuchungen nicht gefeit, und ich bin halt ein alter Maler, und ich glaube, wenn ich das so durchdenke, wahrscheinlich ist der Träger des Orgien-Mysterien-Theaters der visuelle Bereich. Man weiß, daß ich mich sehr mit Musik beschäftige und daß die Musik ein ganz wichtiger und grundlegender Bestandteil meines Theaters ist, aber ich glaube, daß es dieses Theater einmal auszeichnen wird, daß das Visuelle eine große Rolle spielt, und ich bin halt ein visueller Künstler, ein bildender Künstler, da bin ich vielleicht der Versuchung erlegen. Ich habe mir diesen Verrat erlaubt, so wie die einen rauchen oder trinken oder sonst irgend etwas tun, daß meine Aktionsmalerei geliebäugelt hat mit Cézanne und Rembrandt und mit allen großen Malern, und daß sich dadurch jetzt vielleicht die Malerei bis zu einem gewissen Grad gefestigt und besonders ausgeprägt hat und eben wie ein Unkraut gewuchert ist, und ich freue mich sehr über viele Bildresultate, die ich früher nicht hatte, als es noch um die nackte Aktionsmalerei ging. Und wie gesagt, das ist aber nie ganz losgelöst von der Grundstruktur des Orgien-Mysterien-Theaters, und die Basis meiner Malerei wird immer die Aktion bleiben. Meine Malerei ist also nicht eine Reminiszenz des Informellen oder Tachistischen, sondern eine strukturelle Notwendigkeit innerhalb meines Theaters.

OR: Es ist mir in den letzten Jahren eben sehr aufgefallen, daß es fast nur noch Malaktionen gegeben hat, daß man große Bilderproduktionen gesehen hat, Ausstellungsinszenierungen, aber nach der großen Dreitages- und Dreinächteaktion in Prinzendorf kaum mehr Aktionen. Wie wird der Einstieg gehen? Wird es für Dich nicht ein Problem sein, jetzt, nach Jahren wieder in diesem Umfang zu inszenieren? Oder wird es neue Aspekte geben, die Du jetzt schon benennen kannst?

HN: Es ist so, daß ich ganz stark auf meine große Aktion, auf das Sechstagespiel, eingestellt bin, und ich habe es eigentlich aufgegeben, so wie früher – man kann es ruhig sagen, auf der ganzen Welt – Aktionen zu machen. Ich möchte das nicht mehr. Meistens schlage ich die Einladungen aus, weil ich will, daß die große Sache mehr oder weniger ausschließlich in Prinzendorf verwirklicht wird, und nicht woanders. Ich will keine kleineren Aktionen mehr machen, ich möchte mich jetzt ganz auf die große Sache konzentrieren, aber dafür habe ich meine Aktionsmalerei als Ersatzaktion. Meine letzten Bilder sind sehr pastos, und es geht mir darum, daß ich, wenn ich male, mehr oder weniger das Gefühl habe, in die Gedärme hineinzugreifen. Ich glaube, ich weide ein Tier aus, und ich schmiere und wühle in dieser dicken Farbe. So ist die Sehnsucht nach meinen Aktionen in den letzten Malereien, glaube ich, stark erkennbar. Einerseits wird die Malerei vielleicht selbständiger, aber ich würde sagen, auf eine andere, merkwürdige Art wird sie doch wieder aktionistischer.

OR: Sind schon Schwerpunkte sichtbar für das Sechstagespiel, daß man sagen könnte, es gibt deutliche Unterschiede zu dem Dreitage-Spiel?

HN: Ich wehre mich immer dagegen, mein Projekt zu verbalisieren. Man fragt: Sagen Sie, was wird denn da passieren bei der Aktion? Und diese Frage will und kann ich nicht beantworten. Eines ist sicher, und das ist jetzt ganz einfach gesagt: Es wird die größte und wichtigste Aktion sein. Sicherlich wird es viel geben, das es bei allen meinen Aktionen gibt. Ich habe Leitmotive, wie gesagt, Grundstrukturen, die immer wieder vorkommen, aber es wird auch Ereignisse geben, die ich in dieser Form noch nicht realisiert habe. Es war so, daß im Zuge der Entwicklung meines Theaters alles mehr oder weniger schrittweise gegangen ist. Der erste Realisierungsversuch war die Aktionsmalerei, Abreaktionsmalerei. Dann ist der Tierkadaver eingeführt worden, dann habe ich meinen eigenen Körper eingeführt, dann habe ich Fremde gefunden, die passive Akteure für mich waren, habe welche gefunden, die aktive Akteure waren, dann haben sich die Aktionen immer mehr ausgeweitet. In London konnte ich das erste Mal ein Orchester verwenden, in Amerika wurden Essen und Geschmack eingesetzt, später dann in Prinzendorf der Geruch. In Prinzendorf kam auch die Landschaft dazu. Also es ist immer mehr gewachsen.

OR: In letzter Zeit sehe ich ein verstärktes Interesse für große, monumentale Ausstellungsinszenierungen. Wie stehen diese mit dem Orgien-Mysterien-Theater im Zusammenhang?

HN: Meine Ausstellungen entsprechen eigentlich immer einem Werbefeldzug für mein Theater. Wer sie gesehen hat, muß erkennen, daß es um mein Theater geht und daß ich versuche, es durchzusetzen. Und jede Ausstellung ist bis zu einem gewissen Grad auch eine Inszenierung, und ich liebe es in letzter Zeit, theatralische Ausstellungen zu machen. Ich habe mich immer bemüht, nicht einfach Bilder an die Wand zu hängen. Ich versuche jetzt, die Ausstellungshallen mehr oder weniger in sakrale Räume umzuwandeln, und – wie gesagt – es ist mir sehr wichtig, daß es sich um eine totale Gestaltung des Innenraumes handelt, der mir zur Verfügung steht.

OR: Inwiefern sakral? Welche Art von Sakralität ist das?

HN: Ich war immer der Meinung, daß Kunst etwas Religionsähnliches ist und habe da auch viele Vorbilder gehabt, die mich als junger Mensch sehr beeinflußt haben, die mich geprägt haben. Ich denke an Klimt, an Stefan George, an Skrjabin, alles Künstler, die der Meinung waren, daß der Umgang mit Kunst eine religiöse Tätigkeit ist.

OR: Und soll dann der Betrachter auch zu religiösen Empfindungen kommen?

HN: Ich würde sagen, wenn man das bei meiner Arbeit nicht spürt und übermittelt bekommt, ja dann würde ich sagen, daß ich zu einem Teil gescheitert bin.

OR: Ich sehe nur diesen Begriff des Religiösen noch nicht; eine mystische Erfahrung oder was immer für mich das naheliegendere Wort wäre. Nicht „religiös“, weil ich das Gottesbild nicht sehe.

HN: Es gibt auch atheistische Religionen. Also der liebe Gott ist beim Religiösen nicht unbedingt intendiert. Ich kann der ganzen Schöpfung gegenüber religiös sein, das ist bei mir der Fall, aber die Frage, ob es den lieben Gott gibt oder nicht, ist bei mir nicht zentral, und die kann ich und möchte ich nicht beantworten.

OR: Also Du bist nicht bereit, dieses Gottesbild zu personalisieren, aber eine Existenzform muß dem doch zugestanden werden?

HN: Wem?

OR: Dem Göttlichen, und dem Numinosen, oder wie auch immer.

HN: Wenn, dann ist mir der Begriff des Numinosen sympathischer. Das Göttliche ist natürlich etwas, mit dem ich mich sehr auseinandergesetzt habe, aber es ist für mich als Begriff nicht notwendig. Für mich ist es, ich würde sagen, die nicht oder nur schwerstens verbalisierbare Qualität des Seins. Das ist es, was man als das Göttliche bezeichnen könnte, oder was man mit Gott gleichsetzen könnte. Den Begriff „Sein“, den hat nicht der Heidegger gepachtet, es ist vielmehr ein Begriff, mit dem sich die Philosophie aller Zeiten herumschlägt. Ich möchte das so sehen, daß das Sein überhaupt schlechthin das Allumfassende aller Gegebenheiten ist. Das Sein ist Dasein in allen seinen Erscheinungsformen, sowohl in statischer als auch dynamischer Hinsicht. Sein ist für mich alles, und dieses Sein liegt bedingt in Unendlichkeit und Ewigkeit und hat für mich weder einen Anfang noch ein Ende, und in diesem Sein kann ich das Übergreifende, das Numinose und das Abgründige spüren, kann alles das spüren, was man mit dem Begriff des Göttlichen – und Gottes – in Verbindung bringen könnte. Also für mich ist ein persönlicher Schöpfergott nicht notwendig, um die Welt religiös begreifen zu können.

OR: Also der Seinsbegriff kann den engeren Gottesbegriff ersetzen, dieser umfassende Seinsbegriff.

HN: Ich würde sagen, das Sein ist dem lieben Gott überlegen, es ist nämlich das Haus, in dem er wohnt. Denn wenn der liebe Gott nicht „ist“, dann nützt das gar nichts. Das Sein ist jene Gegebenheit, die über ihm steht.

OR: Es gehen natürlich die Religionen davon aus, daß ein Schöpfergott dieses Sein zuerst einmal realisiert hätte. Er hat das Haus gebaut, damit die Menschen in dem Sein leben können.

HN: Er ist das absolute Sein, aber es ist die Frage, inwieweit sich unsere Sprache solche Begriffe leisten kann, und da kann man eben darüber streiten. Es gibt ja diese Witze, was früher war, die Henne oder das Ei. Für mich ist es so, daß das Sein die Grundgegebenheit ist. Vielleicht lassen wir den persönlichen Schöpfergott der Einfachheit halber weg.

OR: Und vor diesem Hintergrund des allumfassenden Seins entwickelst Du, Dein eigener Schöpfergott, Dein Werk in Analogie.

HN: Nicht vor dem Hintergrund, sondern in dieser Gegebenheit und aus dieser Gegebenheit heraus entwickle ich oder entwickelt sich durch mich das Sein und versucht, zu sich selbst zu kommen.

OR: Ich greife jetzt ein wenig zurück und bin mir bewußt, daß das Gespräch sonst schwer weiterzuführen wäre. Du hast einmal gesagt, und ich fand das sehr schön und köstlich, daß so wie Du keiner schütten kann, und Du hast das ein wenig auf Deine Wurzeln in der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt zurückgeführt. Hast Du dort eine gewisse Sicherheit in der Formalisierung bekommen?

HN: Diese Sache mit dem Schütten, das ist sicher ein Spaß gewesen. Aber es geht eigentlich tiefer. Ich versuche, wenn ich schütte und den Zufall in dieser Form eingemeinde, das Schütten an sich zu bewerten, und es ist so: Du gehst auf der Straße, und da liegt plötzlich eine zerschlagene Milchflasche, und die Milch ist weit verspritzt, oder ein zerschlagenes Ei, oder Du fährst mit der Eisenbahn, und da siehst Du diese Ölwaggons, und da rinnt es so hinunter, das ist eigentlich das, was ich möchte. Also ich will nicht, daß man merkt, daß das geschüttet ist, also mit der Absicht, jetzt gute Malerei zu machen. Ich möchte eigentlich so schütten können, wie es eben passiert. Einem Kellner fallen jetzt drei Bier hinunter – platsch –, und unten hast Du die Glasscherben. Das möchte ich eigentlich. Das ist irgendwie über den Zen-Buddhismus zu verstehen. Ich möchte unheimlich spontan schütten können.

OR: Obwohl doch die Malerei der letzten Zeit sich von dieser Spontaneität etwas wegentwickelt hat. Ist es nicht so, daß die Bilder um 1960 unmittelbarer dem entsprochen haben, was Du jetzt gesagt hast, und daß Du in letzter Zeit sehr viel mehr formalisierst und, wenn man so will, viel mehr Kunstwollen, viel mehr Gestaltungsprinzipien in Deine Malerei eintreten?

HN: Davon haben wir eigentlich schon gesprochen.

OR: Hm. ja.

HN: Wie ich Dir gesagt habe, daß es gewisse Versuchungen gibt und daß ich natürlich jederzeit zur Aktionsmalerei zurück kann.

OR: Wie stehst Du zur gegenwärtigen Kunstproduktion? Oder hat Dich das Gegenwärtige an der Kunstproduktion überhaupt nie interessiert? Oder war das zu einem bestimmten Zeitpunkt wichtig, ist es jetzt noch wichtig oder nicht mehr wichtig? Also das ist einfach eine Frage nach den anderen.

HN: Ich glaube, ich war nie so ganz auf das Gegenwärtige bezogen, aber es hat mich natürlich sehr beeinflußt, besonders in meiner Jugendzeit, aber ich habe immer etwas anderes machen wollen als das, was gegenwärtig war, habe versucht, mich darüber hinaus zu verwirklichen.

OR: Aber hast Du und habt Ihr (die Aktionisten) ab 1960 bzw. Mitte der sechziger Jahre nicht sehr stark dieses Gefühl gehabt, jetzt die äußerste Avantgarde zu repräsentieren?

HN: Das geht in Wien nicht, weil in Wien wird immer gesagt, es ist eh schon alles dagewesen!

OR: Habt Ihr das geglaubt?

HN: Bis zu einem gewissen Grad – ja, aber das hat mich nicht davon abbringen lassen, denn es ist mir letztlich nur um die Qualität gegangen, um die Intensität dessen, was ich gemacht habe.

OR: Und so eine Spur Revoluzzertum war da nicht dabei?

HN: Ich habe eigentlich immer das Neueste machen wollen, das war ein Auftrag, den mir das künstlerische Umfeld gegeben hat. Es war auch so – ich meine, ich will mich jetzt da nicht hineinmogeln – bei dem ganzen Orgien-Mysterien-Theater, also schon bei den Grundzügen des Konzeptes, daß postmoderne Gegebenheiten vorhanden waren. Dieser riesige Bau mit dem Sechstagespiel, also die hohen Ansprüche, die man in dieser Art nur im 19. Jahrhundert der Kunst abverlangt hat. Ich wollte schon damals das Avantgardistische in einen viel größeren Zusammenhang einbauen.

OR: Aber den Begriff der Postmoderne gab es damals noch nicht.

HN: Nein, überhaupt nicht.

OR: Wäre Dir das überhaupt schon zu Bewußtsein gekommen damals, daß hier vielleicht Aspekte eines bestimmten Historismus in Richtung Wagner da waren?

HN: Ja, darüber habe ich viel nachgedacht. Ich habe das so gesehen, daß viele Elemente des 19. Jahrhunderts in meiner Arbeit enthalten sind, aber daß sie andererseits ultramodern sein sollte, also im Anschluß an die ganze Happening-, Aktionismus- und Performance-Tradition, daß ich mit diesen Grundelementen etwas ganz anderes machen wollte.

OR: Du hast einmal gesagt, es ginge Dir darum, den Aktionismus klassisch zu machen.

HN: Das war eigentlich schon sehr früh. Es gab also die Amerikaner mit ihren Happenings, und dann auch meine Wiener Kollegen, und ich war ein großer Verehrer von Cézanne, und mir ist aufgegangen, daß er eine ähnliche Problematik hatte. Er hat immer davon gesprochen, daß er den Impressionismus klassisch machen möchte. Und mein Problem war das eben auch. Das mehr oder weniger impressionistische Happening der Amerikaner war sehr flüchtig, meistens nicht wiederholbar, es gab keine Partitur, höchstens Skizzen. Bei den deutschen Happenings oder Aktionen von Beuys oder Vostell war es genauso, aber bei mir war da immer diese starke Beziehung zur griechischen Tragödie und der Einsatz der Psychoanalyse für mein Theater, und daraus ergab sich die selbstverständliche Konsequenz, daß ich die Flüchtigkeit des Happenings – ich will nicht sagen: abgelehnt habe, aber sie war für mich nicht brauchbar. Ich wollte ein aktionistisches Geschehen entwickeln, das eine gewisse Strenge hat, und in diesem Sinn bin ich immer noch damit beschäftigt, den Aktionismus oder die Performancekunst klassisch und zeitlos zu machen.

OR: Obwohl sich daraus natürlich ein spannender Widerspruch ergibt, einerseits das Aktionistisch-Spontane, andererseits das Klassische bis zur strengsten Regelhaftigkeit.

HN: Ja, aber die Klassik ist auch einmal etwas gewesen, was sich entwickelt und allmählich konstituiert hat. Ich halte es für ein Mißverständnis, daß die Klassik oder meine Auffassung von Klassik mit den strengsten Regeln zementiert werden muß. Klassisch ist für mich etwas Großes, etwas Prägendes, das sich gewaltig ereignet. Es ist überhaupt schwierig, mit dem Begriff umzugehen. Es gibt ja den Gegensatz von Barock und Klassik oder den Gegensatz von Klassik und Manierismus, da bilden sich immer wieder Gegensätze, aber eine Sache, die manieristisch ist, kann gegen eine noch manieristischere klassisch wirken, nicht? Aber ich meine damit nur: Ich möchte einen Klotz hinstellen, also etwas, das man nicht umgehen kann.

OR: Und Du hast nicht den Eindruck, daß dieses Klassische bei Dir bereits erreicht ist. Da läßt sich also noch daran arbeiten?

HN: In dem Sinn, wie ich glaube, daß eine Struktur kein eisernes Gerüst ist. Sie ist vielmehr mit dem Knochenbau zu vergleichen, dem Knochenbau eines Kindes, und das wächst eben mit dem jungen Menschen mit, bis er erwachsen ist. Das habe ich schon ein paar Mal versucht darzulegen, das ist mir sehr wichtig.

OR: Und das Sechstagespiel ist die Vollendung dieser Vorstellung, ein Abbild der Schöpfung zu geben? Was wird dann kommen?

HN: Ein Abbild der Schöpfung kann ich nicht geben, ich kann nur ein vielleicht gewaltiges Fest entwickeln. Ich sage immer wieder, ich möchte das größte Fest der Menschheit entwerfen, wo eben wirklich alles enthalten ist, wo vom größten Jubel und der extremsten Glücksekstase bis zur Anschauung des Leides und des Todes alles enthalten ist. Und abbilden möchte ich überhaupt nichts. Ich möchte mit meiner Kunst dem Dasein und dem Sein huldigen, aber nicht etwas abbilden. Dieses Mißverständnis könnte auch von mir selbst ausgelöst worden sein, weil ich immer wieder sage, ich möchte mit meiner Arbeit die Geschichte des Bewußtseins erzählen. Aber es ist damit gemeint, daß ich nicht abbilde, sondern daß sich ja die Wirklichkeit selbst durch dieses Spiel und durch diese Kunst intensiv ereignet.

OR: Ich habe das ja nicht anders gemeint, ich habe mich auf Deinen Begriff der Realität durch Kunst bezogen und daß sich dadurch eine Parallele zum Bild des Kosmos ergibt.

HN: Es ist ja so, daß meine Kunst das Abbildhafte bis zu einem gewissen Grad überwunden hat, hier drückt sich eine historische Phase aus, wo sich die Kunst vom Abbildhaften und Abbildenden emanzipiert hat. Es ist das Wesentliche meines Theaters, reale Geschehnisse zu inszenieren, da wird nichts abgebildet, und alles Ikonographische und das Gefüge der Assoziationen wird durcheinandergeworfen, damit wird eben gespielt. Du hast übrigens in einem Deiner Artikel sehr schön geschrieben, daß ich bis zu einem gewissen Grad der informellen Malerei wieder eine Ikonographie abgerungen habe. Das ist richtig, das hat Arnulf Rainer übrigens auch gemacht, meiner Meinung nach. Wir haben in diese sehr freie, ungegenständliche Malerei wieder Inhalte hineingebracht. Wobei aber der Begriff des Inhalts nicht überbewertet werden soll. Für mich ist die Form das Entscheidende, und der Inhalt bestenfalls ein Bestandteil der Form. Für mich gibt es nicht diesen Dualismus aus Inhalt und Form. Das war schon eine Problematik meiner Jugend. Ich weiß, daß ich ein sehr expressiv veranlagter Künstler bin, und das Inhaltliche ist in meiner Arbeit sehr wichtig, trotzdem ist die Form das Entscheidende. Ich hoffe, mir das leisten zu können, mit den Inhalten zu spielen, und die Form zu haben, die in der Lage ist, diese Inhalte zu verarbeiten.

OR: Es hätte mich aber auch nicht gewundert, wenn Du sagen würdest, der Inhalt ist das Wichtigste, auch wenn der Inhalt nicht Abbild ist, mag er trotzdem das Wichtigste an der Idee des Orgien-Mysterien-Theaters sein.

HN: Das ist eben nicht so. Am Anfang habe ich mich sehr bemüht, die Psychoanalyse in mein Theater, also in meine Dramaturgie zu bringen, aber damals habe ich schon gesagt, und heute sage ich es erst recht, das kann man alles machen, das sind interessante und wichtige Versuche, das Entscheidende muß aber sein, daß es ein Kunstwerk ist. Das ist das Entscheidende bei dem ganzen Theater, das ich aufführe – jetzt sage ich „Theater“, wie man es bei uns im Volksmund sagt, und meine beides, mein Orgien-Mysterien-Theater und das Theater als Hetz. Bei dem ganzen Theater ist der Inhalt irgend etwas Vorgegebenes, aber nicht wesentlich. Ganz wesentlich ist die Form, und jetzt gehe ich sogar so weit, möchte sogar so weit gehen zu sagen: Selbst wenn meine ganzen philosophischen und religiösen Bezüge nicht stimmen, am wichtigsten wäre es mir eigentlich, wenn die Kunst überbleiben würde, das wäre das Schönste. Ich habe ja diese inhaltliche und religiöse Bindung, die gewissermaßen meine Kunst zu einem Sprachrohr macht, aber das heiligste Prinzip ist mir doch die Form.

OR: Also ist das Orgien-Mysterien-Theater von seiner Theorie nicht so abhängig, wie es in letzter Zeit scheinen mag durch die Publikation außerordentlich umfangreicher Bücher.

HN: Ich habe jetzt ein theoretisches Werk vorgelegt und versuche, nicht erschöpfend, aber weitgehend über meine Intentionen Auskunft zu geben, und das ist natürlich ein wichtiger Baustein meines Projektes, das eigentlich ohne Theorie nicht existieren kann. Dieses Buch ist jetzt, würde ich sagen, der erste Auftakt für das Sechstagespiel. Und die Theorie hat durchaus auch einen formbildenden Wert. Das hat nichts mit Formalismus zu tun, Form ist ja ein tieferer Begriff, wo das Grausame, der Tod und das Leid genauso enthalten sind wie das landläufig Schöne. Die Form ist ein ganz tiefer, auf das Sein und die Wirklichkeit bezogener Begriff. Die Form enthält alles, und das ist eben die wahre Schönheit, die auch das Leiden, das Schreckliche und den Tod enthält. Mein Formbegriff hat nichts mit oberflächlicher, schöner, strenger, äußerlicher Form zu tun, es ist vor allem ein Begriff, der nicht flächenhaft ist, sondern ganz in die Tiefe, ins Fleisch, in die Eingeweide, zu den Wurzeln unseres Seins und zu den Wurzeln der Natur geht und von diesen gespeist wird.

(Wien, Juli 1995)

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