KünstlerInnenporträts 35

Michael Clegg im Gespräch mit Martin Guttmann

Martin Guttmann: Kürzlich wurden wir auf eine Arbeit aufmerksam, die in den späten fünfziger Jahren von Soziologen geschrieben wurde, die einen Neubeginn in der Soziologie und gleichzeitig eine Rückbesinnung auf deren Wurzeln versuchten. Es ging um das Verständnis der grundlegenden Mechanismen, die das Alltagsverhalten der Menschen bestimmen. Dazu entwickelten sie eine Reihe von Experimenten, um herauszufinden, was passiert, wenn die wesentlichen Konventionen nicht mehr gelten, die unser Verhalten bestimmen. Sprechen wir also ein wenig über diese Art von Experimenten .

Michael Clegg: Etwas ganz anderes, das uns im Zusammenhang mit dem soziologischen Material zu interessieren begann, war Candid Camera (Versteckte Kamera), diese amerikanische Fernsehshow, die seit den fünfziger Jahren vom Produzenten Alan Funt gemacht wurde. Diese Sendung lief in den fünfziger, sechziger, siebziger, ja sogar bis in die achtziger Jahre. Und wir stellten eine interessante Verbindung zwischen diesen Arbeiten fest. Mit der Zeit begannen wir, die beiden durcheinanderzubringen.

MG: Es gibt Experimente, in denen versucht wird, die Sensibilität der Menschen im Zusammenhang mit ihrem persönlichen Raum zu testen. Da wird untersucht, wie lange eine Person braucht, bis sie sich gegen Übergriffe, gegen die Verletzung dieses unsichtbaren Raumes, den Menschen um sich herum haben, zur Wehr setzt. Eine Person sitzt im Park, und eine zweite Person streckt ihre Hand aus, bis zu einem bestimmten Punkt, und es wird gemessen, wie lange es dauert, bis die erste Person aufsteht und sich einen anderen Platz sucht. In einem anderen Versuch ging es darum, herauszufinden, was passiert, wenn die Grundmechanismen von Gesprächen nicht mehr funktionieren. Der Vater kommt nach Hause, seine Frau begrüßt ihn, er antwortet nicht. Die Kinder sagen „Hallo“, und er sagt wieder nichts. Nach einer Weile spürt man förmlich ein meßbares Unbehagen im Raum. Solche Phänomene wurden auf eine nicht ganz streng wissenschaftliche Art untersucht.
Eine sehr ähnliche Denkweise finden wir in den Candid Camera-Sendungen zur gleichen Zeit. Man kann wirklich beobachten, wie das gleiche kognitive Interesse an den Mechanismen des alltäglichen Verhaltens auch in populären Unterhaltungssendungen präsent ist.

MC: Es war interessant, einige überraschende Trends im Bereich der impliziten Intentionen zu beobachten, bei den Wissenschaftlern in der Soziologie, und bei den Produzenten von Candid Camera. Was uns dabei beschäftigt, ist dieses deutlich vorhandene sadistische Verhalten. Aber die gestellten Situationen werden in den soziologischen Experimenten neutralisiert, es ist weniger transparent, das ist klar. Bei Candid Camera gehört es aber ganz klar zur Struktur, denn das Publikum weiß schon, was der Witz an der Sache ist. Und der Typ, auf dessen Kosten der Witz gemacht wird, hat keine Ahnung.

MG: Es gab ein berühmtes Experiment, das diese ganze Diskussion über ethische Kriterien in soziologischen Experimenten auslöste. Ein Soziologe versuchte zu messen, wie lange es dauert, bis eine Person urinieren kann, und zwar abhängig von der Entfernung, in der sich die nächste Person befindet. Dazu versteckte er sich in einem Raum einer öffentlichen Toilette, und er maß mit der Stoppuhr die Zeit vom Moment des Geräuschs des Reißverschlußöffnens bis zum Geräusch von Flüssigkeit in der Muschel. Diese Forschungsarbeit führte zu einem ziemlichen Aufruhr, und die Frage stellte sich, ob so etwas – egal, welche Ergebnisse ein solches Experiment liefern kann – wirklich den ganzen Aufwand und auch die Verletzung der Privatsphäre von Menschen, etc., etc rechtfertigt. Aber die interessanteste Diskussion entstand natürlich beim Milgram-Experiment. Das war ein wenig später.

MC: In den achtziger Jahren war Alan Funt immer noch der amerikanische Produzent von Candid Camera, er hatte die Serie über all die Jahre hinweg begleitet und sie an die verschiedenen Bedürfnisse und an die sehr unterschiedlichen Möglichkeiten der Präsentation des Materials angepaßt. Das Experiment mit dem Urinieren, von dem Martin vorher erzählt hat, ist ganz eindeutig etwas, das im amerikanischen Fernsehen nicht gezeigt werden konnte und immer noch nicht gezeigt werden kann, obwohl es in einem gewissen Sinn tolles Material ist. Naheliegender wären Sachen mit sexuellen Experimenten, das was der „Playboy“ gemacht hat, mit der typischen Frage „Wie reagieren Sie auf eine nackte Frau? Sie sitzen im Büro, die Wand hinter Ihnen stürzt ein und eine sehr spärlich bekleidete Frau sitzt da. Was würden Sie tun? Was würden Sie zu ihr sagen?“

MG: Im allgemeinen kann man wirklich beobachten, wie sich im Lauf der Jahre die Themen verändern, für die sich die Leute interessieren. In den fünfziger Jahren sieht man, wie sie sich für demographische Veränderungen interessieren. Also hatten die Episoden aus dieser Zeit oft mit dem Verhalten von Einwanderern zu tun, von Leuten, die nicht sehr gut englisch konnten. Es ging ständig um Ladenbesitzer, die nicht englisch sprechen oder um Leute, die in ein Geschäft kommen und die Sprache nicht verstehen. Das ist sehr typisch für die frühen Episoden. Und dann kam die sexuelle Revolution – das waren die Episoden, die Michael erwähnt hat – bei denen das sexuelle Verhalten der Menschen im Vordergrung steht. Man kann also deutlich sehen, daß Candid Camera ein Spiegelbild dessen ist, was die Leute eigenartig oder interessant finden und der Verhaltensweisen, die sie wirklich beschäftigen.

MC: Es gab ein sehr langes Experiment, wo es um die Gewohnheiten der Menschen bei der Abfallentsorgung ging. Über einen Zeitraum von zehn Jahren wurden die Gewohnheiten einer bestimmten Gruppe systematisch studiert. Ich weiß nicht, wie sie das genau gemacht haben, aber ich glaube, sie untersuchten einfach den Inhalt der Mülleimer. Sie schauten jeden Tag nach, zählten die Gegenstände auf, verglichen sie dann und schufen somit eine Art Inventar von Abfallmaterial mit Index.

MG: Das war enorm teuer. Sie mußten speziell riesige Kühlschränke bauen, um den Müll vor dem Sortieren zu lagern. Die Kosten lagen dann tatsächlich bei zweistelligen Millionenbeträgen. Das heißt, daß jemand dieses Thema spannend genug fand, um zu sagen, daß die Steuerzahler solche Dinge finanzieren sollten.

MC: Wir machten also folgendes: Wir nahmen die soziologischen Texte und versuchten, sie auf Episoden von Candid Camera zu übertragen und wie eine Art Drehbuch zu behandeln. Wir versuchten, ein paar solche Drehbücher zu schreiben und einer Produktionsgesellschaft in München vorzulegen. Es war wirklich schwer, man kann sich leicht vorstellen, daß dieses Material als eine Art Querverweis dienen kann oder in zwei verschiedenen Formaten verfügbar ist.

MG: Es ist auch interessant, im Zusammenhang mit den Anfängen der Pop-Art genau die gleichen Überlegungen anzustellen. Die Pop-Art fing genau zur gleichen Zeit an, Mitte bis Ende der fünfziger Jahre. Als Robert Rauschenberg sein Bett nahm und ins Museum stellte, ging das genau in die gleiche Richtung: Erwartungen wurden frustriert. Man betrachtet etwas, das keinen künstlerischen Wert hat und versucht, es als Kunst zu sehen. Und genauso sahen es die Leute damals. Das berühmte Bett von Rauschenberg wurde als Fortsetzung von Marcel Duchamps Ready-mades gesehen. Für uns heute ist es ein bißchen schwierig, das nachzuvollziehen, so zu sehen, aber genau so war es damals. Und wieder ist es die gleiche Idee – einerseits eine starke Neugier auf das Verhalten von Menschen und andererseits das Gefühl, daß man sehr viel darüber lernen kann, wie Menschen fühlen und reagieren, wie sie sich verhalten, etc., wenn man ihre Erwartungen frustriert.

MC: Es ist auch immer interessant herauszufinden, auf wessen Kosten der Witz wirklich geht, denn in Candid Camera war immer implizit die Drohung an die Zuschauer da. Sie sagten immer, du könntest der nächste sein, oder vielleicht bist du jetzt gerade derjenige, auf dessen Kosten der Witz gemacht wird. Das war eine Möglichkeit, diese Erfahrung attraktiver, akzeptabler für die Zuschauer zu machen. Sie konnten ihre eigene Lust an diesen sadistischen Strukturen leichter akzeptieren.

MG: Und ungefähr zur gleichen Zeit, in den fünfziger Jahren, entstanden viele andere Sachen mehr oder weniger in der gleichen Richtung. In Frankreich waren es die sogenannten Situationisten, die versuchten, die Ideen der Surrealisten auf eine etwas direktere Art anzuwenden. Statt zu Hause zu sitzen und zu fantasieren, gingen sie los und versuchten, sich direkt in den Strom der Menschen in einem urbanen Kontext zu integrieren. Und es ist auch interessant, über eine Entwicklung in der Philosophie nachzudenken, und zwar die Philosophie der Alltagssprache in den fünfziger Jahren – eine Reaktion, die sehr viel Ähnlichkeit mit den anderen Dingen hat, über die wir gesprochen haben. Statt sich auf eine sehr strenge Beschreibung der Sprache auf der formalen Ebene zu versteifen, sollte man versuchen, die Kategorien aus der Beobachtung des Umgangs der Menschen mit der Alltagssprache abzuleiten. Das passierte auch mehr oder weniger zur gleichen Zeit, als diese philosophische Untersuchung erschien – ich glaube 1953 –, also wieder ungefähr im gleichen Zeitraum.

MC: Du fragst dich vielleicht, warum oder wie wir das in unserer Arbeit verwendet haben, was die Quelle unserer Faszination mit Candid Camera ist und wie es mit Soziologie zu vergleichen ist oder – was Martin gerade vorgeschlagen hat – wie das in der Pop-Art aussieht, oder in einem philosophischen Kontext. Das wurde für uns zu einem Modell, das auf verschiedene Arten angewandt werden konnte – es bedeutete, daß wir die Wahl haben, daß es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, die Welt zu beobachten. Wir müssen nicht unbedingt strenge Kategorien anwenden. Es ist interessant, spezifische kulturelle Phänomene allgemein zu untersuchen, und wir erhalten viele Informationen darüber, wie Einschränkungen bestimmte Inhalte verschleiern können. Wenn man sich zum Beispiel überlegt, wieviel Information man darüber bekommt, wie Soziologen denken, dann trifft das auch für die Tricks der Produzenten einer Sendung zu, etc.

MG: Wir waren also fasziniert von der Möglichkeit, daß unsere Arbeit eine Sichtweise liefern könnte, die sehr viel weiter ist als das, was man sich normalerweise erwartet. Denn diese Sichtweise kann eine Vielzahl von kulturellen Formen umfassen und durch die Betonung der Parallelen kann man wirklich sehen wie die gesamte Kultur verschiedene Variationen eines Grundthemas umfaßt – nicht nur was in der einen Form passiert. Wir waren der Meinung, das wäre eine gute Methode für uns, für das, was wir von unserer Kunst erwarten können.

(Wien, Jänner 1995)

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