KünstlerInnenporträts 02

Gespräch mit Gilbert & George

Wolf Jahn: Gilbert und George, Sie begannen Ihre künstlerische Arbeit in den sechziger Jahren, indem Sie sich zu „lebenden Skulpturen“ (living sculptures) erklärten. Welche Idee stand damals dahinter?

Gilbert & George: Wie wir immer betonen, haben wir nie auf einer Idee aufgebaut. Wir hatten einfach nur uns selbst. Und wir wußten, daß wir den Menschen etwas sagen wollten, also benutzten wir das als unsere Ausdrucksweise. Wir denken nach wie vor, daß das unsere grundlegende Form ist, das sind wir, wie wir zu den Menschen sprechen, egal, ob mittels einer lebenden Skulptur oder eines Bildes, eines Textes oder eines Filmes, es sind immer wir, die wir einen visuellen Brief an den Betrachter schreiben.
Tatsächlich kamen wir auf diese Idee durch einen glücklichen Zufall – bis dahin hatten wir keine Ahnung von der Idee, daß Kunst zu Leben werden muß und nicht Kunst über Kunst sein sollte. Und das, glaube ich, war die größte Erfindung für uns: Kunst über das Leben zu machen und nicht Kunst über Kunst.

WJ: Das heißt, die Idee war, das Kunstwerk wie den Künstler zu einem einzigen Wesen zusammenzufügen – zu einer lebenden Skulptur?

G & G: Ja. Im Lauf der Jahre entwickelte sich das auf unterschiedliche Weise. Zunächst war es wahrscheinlich in vielerlei Hinsicht recht unschuldig, bis wir den Slogan „Kunst für alle“ aufgriffen – wiederum auf eine recht unschuldige Art und Weise. Aber später wurde das auf vielfältigste Weise Wirklichkeit. Sogar als wir dem einen Namen gaben – „menschliche Skulpturen“ –, und selbst das wird immer wichtiger für uns und wir erkannten, daß der Künstler eine Vision vor Augen haben muß – das ist das allerwichtigste, die Philosophie, der Traum.

WJ: Wann begannen Sie von „Kunst für alle“ zu sprechen – das war ja schon sehr früh, glaube ich?

G & G: Ich bin sicher, daß wir den Slogan schon '67 oder '68 aufgriffen.

WJ: Und was hatten Sie damals. und jetzt dabei im Kopf?

G & G: Wir wollten Kunst machen, die für jeden verständlich sein sollte. Wenn ein Kind in eine Galerie kommt, soll er uns verstehen können. Wenn eine Großmutter in eine Galerie kommt, soll sie uns verstehen können; und jede andere Person, ob schwarz oder weiß oder gelb, sollte sich in unseren Körper, in unsere Gefühle hineinversetzen können.
Irgendwann erkannten wir die Absurdität eines Großteils der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts: daß der Künstler eine Sprache wählte, die nur eine bestimmte Schicht von Menschen ansprach, aus einer bestimmten Stadt, einem bestimmten Land; und sobald man diese Worte aus dem Kontext herausnehmen würde, wären sie sofort null und nichtig. Sie wären nicht einmal mehr ein Kunstwerk. Wir wollen Kunst, die wir überall, allen Menschen zeigen können.
Sie muß aus dem Leben kommen. „Demokratisch“ nennen wir das jetzt immer öfter. Die Vorstellung, daß der Künstler sagt, „Ich mache, was ich mache, weil ich es machen will. Wenn Ihr es versteht, ist es gut, wenn nicht, habt Ihr Pech gehabt.“, mögen wir nicht. Wir halten das für selbstsüchtig und dekadent; und es dient niemandem; denn selbst unsere Vorstellung einer „Kunst für alle“ haben wir als Idee einer Dienstleistung entwickelt, in dem Sinn, daß der Künstler eine Zielsetzung haben muß, wissen muß, was er den Leuten sagen will, und dies auch steuern und arrangieren muß; daß er tatsächlich verantwortlich sein sollte, daß er eine Verpflichtung in Bezug auf die Zukunft des kulturellen Fortschritts hat. Wir verändern die Moral von morgen. Kunst muß Moral sein.
So wie wir jetzt sind, ist geprägt davon, wie unsere Großmütter Bücher gelesen haben oder nicht gelesen haben, oder welche Musik sie gehört haben oder nicht gehört haben. Das ist unser Erbe, aber wir wollen die Dinge voranbringen. Wir wußten, es gibt nur eine einzige Aussage, die jeder unterschreiben würde, und die ist: Es gibt Raum für Fortschritt. Jeder, den man auf der Straße fragt, wird das unterschreiben. Wenn Sie einen halben Vorschlag bringen, werden Sie natürlich gespalten sein. Aber über die Grundvoraussetzung, daß die Dinge vorangetrieben werden sollen, herrscht im allgemeinen Übereinstimmung. Ich glaube, unsere Kunst ist ein Kampf und wir versuchen den Grund unseres Daseins herauszufinden. Ich denke, das ist es, was ein Künstler.
Und wir versuchen, eine künstliche Vorstellung, wie man Leben sollte, zu inszenieren. Alles ist künstlich, also müssen wir neue Vorstellungen entwickeln, da wir an die vorhandenen nicht glauben.
Was wir wußten, war, daß – so nichts dazwischenkommt – das Individuum in Zukunft enorm an Bedeutung gewinnen wird. Wir sind der Meinung, daß die Idee des Individuums bis jetzt noch kaum entdeckt ist. Wir würden uns wünschen, daß immer mehr Menschen morgens aus ihren Betten steigen und sich ganz als sich selbst erleben könnten; nicht in dem Sinn, daß sie aufstehen und denken, sie seien Lehrer oder dieses oder jenes; oder Österreicher oder Engländer. Aber sie sollten die Komplexitäten in sich selbst akzeptieren und sich ihnen stellen. menschlicher werden, liebenswerter.
Aber um das zu erreichen, muß man sehr tolerant werden, und das ist äußerst schwierig. Und das ist gegenwärtig eine kulturelle Frage, wie wir denken. Wenn man ein gesundheitliches Problem hat, ist es ganz klar, daß man damit zum Arzt geht. Wenn etwas gegen das Gesetz verstößt, kann man die Polizei rufen. Aber es gibt weite Bereiche menschlicher Belange innerhalb einer einzigen Person, die sich ausschließlich auf kultureller Ebene behandeln lassen, indem man einen Roman liest und in Kapitel drei auf eine seltsame Parallele zu seinem eigenen Leben stößt oder, indem man in eine Ausstellung geht und Möglichkeiten des Denkens entdeckt, die einem bis dahin nicht in den Sinn gekommen wären oder womit man sich bis dahin nie näher beschäftigen wollte. In Zukunft wird die Kultur immer größere Bedeutung gewinnen.
Die Welt wird in gewisser Weise immer engstirniger und das System beruht durch und durch auf Klischees, die man unterstützt oder nicht unterstützt. Stattdessen sollte man auf völlig andere Art sehen. Eher wie eine chaotische Gesellschaft, in der alles akzeptiert wird, wo das Ganze wichtig ist, das Gute und das Böse, beides muß gleich sein, denn wir sind alles das zusammen. In diesem Sinn basiert alles auf Toleranz, indem man immer mehr Rechte für Menschen etabliert und immer weniger Regeln und Gesetze – wie sexuelle, rassische und Verhaltensregeln, und all das, wovon man loskommen muß.

WJ: Das heißt, in Ihrer Kunst geht es um ein Verständnis der Welt als ein Ganzes und ein Verständnis des Menschen als ein Ganzes?

G & G: .um den Versuch eines Verständnisses, den Versuch, tolerant zu sein, Gut und Böse nicht so klar voneinander zu trennen, alles in gewisser Weise leben zu lassen. Wir wollen nicht auseinanderdividieren und nicht wählerisch sein – auszuwählen halten wir für unverschämt. Wir wollen nicht gegen die Gescheiterten und für die anderen sein. Ich denke, daß alles seine Rolle hat, das ist sehr wichtig. Deswegen. das ist unsere Haltung, selbst gegenüber der Kritik. Ich denke, es gibt eben alles, es gibt pro und contra – das ist sehr wichtig. So wie in jeder Person fast mit Sicherheit ein Mörder schlummert, ein trauriger Mensch, ein glücklicher Mensch, ein Liebhaber, ein Hassender. All diese Seiten gibt es in jeder einzelnen Person. Wir alle verfügen über alle Potentiale.
Und immer mehr sind wir der Auffassung, daß es zunehmend eine Art geistiger Kunst wird, es hat nichts damit zu tun, was tatsächlich zu sehen ist. Alles, was man sieht, was man empfindet, ist im Gehirn. Denn was passiert mit der Welt, wenn wir nichts davon wissen. Ausschließlich das Gehirn regelt, was man sieht.

WJ: Was auch auffällt, ist, daß viele dieser Arbeiten sich auch mit dem Tod oder anderen Themen der Zerstörung beschäftigen. Gibt es ein besonderes Interesse an diesen Themen?

G & G: Wir haben einen sehr ausgeprägten Sinn – wie wir denken – für Moral. Wir glauben, daß es sehr wichtig ist, traurig zu sein, daß es sehr wichtig ist, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, sei es dem eigenen in der Zukunft oder dem anderer Menschen. Wir wollen vor nichts in uns selbst zurückschrecken. Alles Menschliche ist wertvoll und schätzenswert.
Tod ist das schrecklichste Phänomen. Und viele Menschen versuchen, nicht mehr an den Tod zu denken. Wir aber sind der Meinung, daß es sehr interessant ist, sich den Tod genauer anzuschauen.
Keines unserer Bilder könnte tatsächlich in der Realität existieren. Es gibt keinen Ort in der Stadt, den Sie aufsuchen und an dem Sie Szenen finden können, wie Sie sie in unseren Bildern gesehen haben. Sie sind künstlich, sie sind in diesem Sinn nicht aus dem Leben gegriffen, es sind keine alltäglichen Bilder.

WJ: Also handelt es sich in Ihren Darstellungen nicht um eine Reflexion dessen, was in der Wirklichkeit passiert?

G & G: Unser Interesse ist nicht, das Leben zu reflektieren, auf welche Art auch immer. Das Leben kann so bleiben, wie es ist, wenn es darum gehen sollte. Wir wollen das Morgen formen. Wir wollen lieber Geistesblitze, als das Leben zu reflektieren.

WJ: Könnte man also sagen, daß Ihre Arbeiten eine Art Utopia darstellen, einen Ort, den es noch nicht gibt, den es erst geben wird?

G & G: Nein, denn ich glaube nicht an Utopia, ich glaube nur an unsere Evolution. Ich habe nie an ein Utopia geglaubt, bloß an eine Art Evolution: das Morgen zu verstehen; unsere Bilder auf eine sehr praktische Weise den Menschen zugänglich zu machen; über das Leben zu sprechen, nicht über Kunst.
Wir denken, daß die Welt immer mehr wie unsere Bilder werden wird. Ja, das denken wir. Wir glauben, daß unsere Bilder in die Person eindringen können. Ganz sicher glauben wir das. Wir glauben, daß ein Leben mit Kultur den Menschen verändert. Er wird von der Ausstellung heimkehren und eine Spur anders mit den Leuten reden, als sie das vorher von ihm kannten. Sie werden in gewisser Weise anders sein wollen – das wollen wir. Veränderung im Menschen ist uns sehr wichtig. Denn wir wissen, daß wir künstlich geregelt werden. Es ist alles künstlich, wie wir uns verhalten und was wir über andere Leute reden, es ist alles künstlich geregelt. Das muß nicht so sein. Das wissen wir ganz genau, denn letztlich sind wir emotionale Wesen. Daher versuchen wir, in die Gefühle von Menschen einzudringen. er verändert sich tagtäglich und wir wissen nicht einmal, warum. Das zu verstehen ist uns sehr wichtig.
Und wir denken, in irgendeiner Form tut das jeder. Es fällt uns immer auf, daß Leute spätnachts in einer Bar, kurz vor der Sperrstunde, immer sehr philosophisch werden und sich zu fragen beginnen, was sie da tun, und sehr ernst werden. Und wir als Künstler sind äußerst privilegiert, denn wir können das als Beruf ausüben – full-time, die ganze Zeit über.

WJ: Wie sieht Ihr Alltagsleben aus?

G & G: Das hängt davon ab, von welchem Tag wir sprechen, wirklich – manchmal entsetzlich, manchmal glänzend, stets arbeitsreich, manchmal ein wenig destruktiv. Wir versuchen, unser Leben möglichst weitgehend durchzuorganisieren, ziemlich methodisch und ziemlich praktisch.

WJ: Wie würden Sie einen Künstler, einen modernen Künstler definieren, wenn Sie das in Worten beschreiben müßten?

G & G: Wir würden sagen, daß ein wahrer Künstler jemand mit einer überdurchschnittlich entwickelten Zielbewußtheit ist, jemand mit übermäßiger Begeisterung für die Zukunft. Und mit einem Verständnis für das Leben. Ich finde, das Wort „Kunst“ sollte abgeschafft werden – es hat keinerlei Bedeutung.

WJ: Interessieren Sie sich für Politik?

G & G: Wir interessieren uns nur für den Politiker, der uns folgt… denn wir glauben sehr stark an diese Kultur… und Kultur ist wichtiger als Politik. In einer idealen Gesellschaft haben die Politiker die kulturellen Wünsche des Volkes auszuführen. Daher ist es äußerst wichtig, sich auf die Menschen zu konzentrieren. Sechzig Jahre nachdem Dickens eines seiner berühmten Bücher über die gräßlichen Fabriken voller Kinder schrieb, wurden gesetzliche Regelungen getroffen, um dem ein Ende zu setzen, aber zuerst kommt immer der Kunstgriff und dann, sobald die Öffentlichkeit sich in das kulturelle Denken einschaltet, müssen die Politiker nachziehen. Sie können niemals das, was sich ereignet, erfinden. Sie haben den Menschen zu folgen, von denen sie gewählt oder abgewählt werden.

(Wien, April 1992)

TOP